Hintergrundinformationen
zum SüdFILMfest 2005


Gizli Yüz

(Das verborgene Gesicht)

Das magische, eindringliche Werk Ömer Kavurs lässt sich kaum mit Worten erzählen: ein meditatives Gedicht des Sufismus, das einen weit davonträgt. Ein Film für unsere Zeit, die sich des Wesens der Zeit und der Mystik der Zeitlosigkeit nicht mehr bewusst ist. Ein Film auch über die Fähigkeit, sich Zeit zu nehmen, zu beobachten, zu erzählen – zu sein. Ein Film schließlich über die Einzigartigkeit des einzelnen, der doch nur wieder Teil ist des unergründlichen Ganzen, mit dem er verschmilzt. „Das verborgene Gesicht” führt ins Reich jener Imagination, die auszuloten keinem Menschen je möglich ist und in der alle Geheimnisse des wahren Lebens und jeder Glückssuche liegen. So sucht letztlich der Fotograf den vergessenen Traum, der in sein inneres gedrungen ist: Von diesem Traum entfernt, ist Leben bloß Traurigkeit und Qual. Und vom Wesen der Uhren, die ohne Seele sterben und mit einem fremden Ersatzteil nicht zu retten sind, erfährt der Mann, dass sein Weg über die ersehnte Liebe zu einem Menschen weit hinausgeht. Die Filmreise ist längst eine innere Reise geworden, die den flüchtigen, trügerischen Augenblick überwindet. Am Schluss des Films findet der Mann zur Befreiung, wo er lächelnd einen Baum betrachten kann: jenseits der Unruhe des Wartens, Sehnens, Erwartens. Analog zum zenbuddhistischen Bestseller „Die Kunst des Bogenschießens” könnte dieser meisterhafte Film den Titel „Die Kunst des Seins” tragen.

Anguruzuminabstafil

Diese Sufi-Geschichte steht am Anfang der Hintergrundinformationen zum diesjährigen SüdFILMfest weil sie, vielleicht mehr als andere Geschichten, auch das Motto des Filmfestes, insbesondere aber auch des «Fests für Freunde» sein könnte. Die Geschichte stammt aus dem Buch «Die Sufis – Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier» von Idried Shah, erschienen 1976/1990 im Eugen Diederichs Verlag, München.

«Wir kennen», sagt der Derwisch, «ein Wort, das beschreibt, was wir tun, und fasst unsere Art zu denken, zusammen. Durch dieses Wort wirst du den wahren Grund für unsere Existenz verstehen aber auch, warum die Menschen im Allgemeinen miteinander im Streit liegen. Das Wort heißt: Anguruzuminabstafil». Und er erläuterte das Wort durch eine alte Sufi-Geschichte:
Vier Männer, ein Perser, ein Türke, ein Araber und ein Grieche, standen auf einer Dorfstraße. Sie waren Reisegefährten, unterwegs zu einem fernen Ort. Gerade jetzt aber stritten sie sich, wie sie das einzige Geldstück, das sie noch besaßen, ausgeben sollten. «Ich möchte angur kaufen", sagte der Perser. «Und ich will uzum», meinte der Türke. «Nein, ich will inab», sagte der Araber. «Ach was!», sagte der Grieche, «wir sollten unbedingt stafil kaufen.» Ein anderer Reisender, einer der die Menschen kennt und versteht, der gerade vorüberkam, sprach sie an: «Gebt mir die Münze. Ich werde einen Weg finden, euer aller Wünsche zu befriedigen!» Zuerst wollten sie ihm nicht trauen, aber schließlich gaben sie ihm die Münze. Er ging zum Stand eines Obsthändlers und kaufte vier kleine Bündel Weintrauben. «Das ist ja mein angur», sagte der Perser. «Das ist doch genau das, was ich uzum nenne", rief der Türke aus. «Sie haben mir inab gebracht", sagte der Araber. «Ach was!», meinte der Grieche, «in meiner Sprache heißt das stafil». Die Männer teilten sich die Weintrauben, und jeder erkannte, dass der ganze Streit nur auf seinem Missverstehen der Sprache der anderen beruhte.

Dialoge aus dem Drehbuch

Fotograf (im Laden des Uhrmachers): Etwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was... – Ich dachte, Uhren gehen nicht mehr kaputt...
Uhrmacher: Warum?
Fotograf: Uhren sind nicht mehr handgemacht...
Uhrmacher: Aber deine ist Handarbeit... Hörst du, sie geht... – die Feder war lose... Wie hast du verstanden, dass etwas nicht stimmte?
Fotograf: Ich hab's gemerkt... – sie hat mich beunruhigt...
Uhrmacher: Wenn jeder so empfindsam wäre, würde die Welt anders aussehen... Ich setze ihr ein Teilchen ein, an das niemand denken würde... Weder die Uhr noch du, keiner wird mehr unruhig sein...
Fotograf: Muss man, um friedvoll zu sein, in so einem Laden arbeiten?
Uhrmacher: Nicht im Laden, in den Uhren steckt das Geheimnis...
Fotograf: Was ist das Geheimnis?
Uhrmacher: Genau weiß ich's nicht... Aber ich schließe den Laden abends und gehe heim... Das Haus ist still... So still, dass ich meine, die Uhren im Laden ticken zu hören... Ich denke an die Uhren, wie sie nach dem Schließen von Tür und Rollladen im Dunkeln weiterticken... Alle gleichzeitig im leeren, dunklen Laden... Und das, junger Mann, beunruhigt mich... – So, erledigt!
(...)
Fotograf: Was wünschen Sie sich im Leben am meisten?
Uhrmacher: Den Menschen die Uhren zu erzählen. Die Feinheit der Mechanismen, das Unheimliche der Federn, das Dunkle des Räderwerks... Heute weiß doch keiner mehr, was eine Uhr ist... Vielleicht sind darum die Menschen voll Trauer, können darum nicht von sich selbst erzählen... Sie spüren nicht einmal die Seele hinter den Stunden- und Minutenzeigern... Ich möchte ihnen das Geheimnis der Uhren erzählen... Dann würden sie aufwachen und die Welt mit neuen Augen sehen... Wären ihren Kummer los, könnten sogar ihre Geschichte erzählen...
(...)
Trödler (zum Fotografen, am Schluss des Films): Sieh mal an, du gefällst mir, guter Freund! Hier ist eine Geschichte von mir für dich... Es war einmal ein Dieb, der lebte in einem fernen Land... Ein Träumedieb... – nachts drang er in die Träume der friedlich Schlafenden, stahl und füllte seinen Beutel mit dem, was ihm gefiel... Die morgens Erwachenden fühlten sich unbehaglich, innerlich hohl... Sie gingen zu einem weisen Alten, schilderten ihm ihre Sorgen. Ein kluger Weiser war der Weise. Er sagte, erzählt mir eure Hoffnungen, wenn ihr schon eure Träume verloren habt... Doch die Unglücklichen konnten sich einfach nicht daran erinnern, was ihnen aus dem Traum gestohlen worden war... Da sie's vergessen hatten, konnten sie auch keine Hoffnungen ersinnen... Warum wohl? Weil ihre Träume in meinem Beutel sind, deswegen... Haha, so ist das... Ein Spiegel, ein Bügeleisen, eine Lampe... Hahaha...
Ende

Die Brücke zur wahren Wirklichkeit

Die folgenden Texte wollen mitnichten den Anspruch erheben, dem Sufismus gerecht zu werden. Bezugspunkt für die Auswahl bleibt Ömer Kavurs «Das verborgene Gesicht»: Die thematisch gegliederten Zitate können in diesem Zusammenhang zu vertieften und weitergehenden Gedanken und Interpretationen anstoßen sowie das Gesehene erweitern. Wenn dabei Anregungen, sich näher mit dem Sufismus auseinanderzusetzen, erfolgen, ist dies freilich kein unbeabsichtigter Nebeneffekt.

Ich fragte einen Jungen, der eine Kerze trug: «Von woher kommt das Licht?» Sofort blies er es aus. «Sag mir, wohin es ging – dann sage ich dir, woher es kam.»
(Hasan von Basra )







Djomeh

(Der Junge Djomeh)

Ein Afghane im iranischen Exil

«Let's face it», schrieb der Filmkritiker und -historiker Andrew Sarris diesen 10. September im «New York Observer» vollmundig, einen Tag vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, «die Zensur im Iran ist so rigoros, als wäre die in den dreissiger Jahren von katholischen Kreisen gegründete 'legion of decency' die amerikanische bürgerliche Freiheitsunion». Let's face it: In diesem Satz schwingt ein unangenehmer Unterton mit. Sarris billigt den iranischen Filmemachern zu, aus der Not eine Tugend gemacht zu haben; argumentiert dabei allerdings vom hohen Ross der USA herab: Weil sich iranische Filmemacher keine Spezialeffekte und kein digitales Spektakel leisten könnten, seien sie zu den Wurzeln des Kinos zurückgekehrt und hätten sich dem «gewöhnlichen Leben ihrer Leute» zugewandt. Und: «Das Resultat ist ein gewisser Exotizismus.» Wenngleich Sarris' Interesse an der islamischen Welt in den vergangenen Wochen zugenommen haben dürfte, so wird sie für ihn wohl noch immer erst mal bloss jene «rückständige» Welt meinen, die Männern wie Frauen «unüberwindbare Hemmungen» auferlege, wie er auch schreibt.

Anlass für Sarris' Artikel war Hassan Yektapanahs «Djomeh», ein Film, den man mit etwas mehr Sinn für Feinheiten schon vor dem 11. September anders hätte lesen können, der aber durch die jüngsten Ereignisse ungewollt an zusätzlicher politischer Brisanz gewonnen hat. Denn wie in anderen aktuellen iranischen Werken - «Baran» von Majid Majidi oder «Delbaran» von Abolfazl Jalili - wird auch in «Djomeh» die Situation afghanischer Flüchtlinge thematisiert. 1,2 Millionen Afghanen leben im Iran offiziell in Lagern, unzählige weitere klandestin, «sans papiers». Yektapanah spricht von insgesamt fast vier Millionen Afghanen auf iranischem Boden. Das war vor den Anschlägen.

Einer dieser Flüchtlinge ist Jalil Nazari, der in «Djomeh» die gleichnamige Hauptfigur verkörpert. Wenn er im Film als einer von zwei afghanischen Landarbeitern auf einem Bauernhof in der kargen, bergigen Grenzregion für den Molkereibesitzer Agha Mahmoud arbeitet, so spielt er gewissermassen auch sich selbst – nämlich den Flüchtling, der sich zu integrieren versucht, der aber seinen Status als Aussenseiter tagtäglich auf der Milchtour zu spüren bekommt: Mal wird er beim Wägen der Milch hintergangen, dann wieder spielen ihm die Kinder Streiche am Laufmeter. Am schmerzvollsten aber sind die dauernden Heiratsfeste im Dorf: Bei jedem Besuch ist er mit einem solchen konfrontiert. Wenn er also seinen Boss bittet, beim Ladenbesitzer des Ortes für ihn um die Hand dessen Tochter anzuhalten, so spiegelt sich darin nicht nur Leidenschaft oder Verpflichtung der Tradition gegenüber – in Afghanistan wird, sagt er, schief angeschaut, wer bis zwanzig nicht geehelicht hat, sondern ebenso sein Verlangen nach Zugehörigkeit.

Vor dem Hintergrund alltäglicher Routine entfaltet «Djomeh» unspektakulär ein Bild ethnografischer Qualität, Schattierungen von Drama wie Komödie inbegriffen. Herzstück sind dabei die Über-Land-Autofahrten von Djomeh und seinem Chef, wobei der Führerstand als eine Art Druckkammer funktioniert, so ähnlich wie dies in «Geschmack der Kirsche» von Yektapanahs Mentor und Lehrer Abbas Kiarostami der Fall war. Die Enge intensiviert Beziehungen, und so wie beiläufig der Hintergrund dem Innenleben des jeweiligen Protagonisten zugeordnet ist – hinter dem verliebten Djomeh grünt es in der Landschaft, während hinter dem mittelalten Junggesellen Mahmoud nur Wüste zu sehen ist –, nähern sich die beiden nicht nur dem andern, sondern auch sich selbst. Dass der Afghane Sunnite und der Iraner Schiite ist, spielt keine Rolle, ebenso wenig der potenzielle Generationenkonflikt.

Die Schwierigkeit des Exils, erlebbar gemacht anhand eines Stücks Strasse im Ödland. Die Ereignislosigkeit der Landschaft findet in der statischen Kamera und der seriellen Montage stilistisch ihre Entsprechung, zwischenzeitlich sind die Bilder tableauhaft, beinahe gemalt. Lange Einstellungen, ein betont dokumentarischer Touch, ökonomische Schnitte und eine fast verleugnete Kamera. Der Film soll dem Alltag möglichst gleichen. Durch Stimmen und Gesten wird permanent auf ein Aussen verwiesen; die Welt ist immer grösser als die, die wir als Alltag sehen. Dahinter spürbar ist die Erfahrung des Krieges. Denn mit Krieg hat der iranische Neorealismus mindestens so viel zu tun wie mit Zensur. Als der Iran-Irak-Konflikt 1980 begonnen hatte, gingen unzählige Junge an die Front, auch Yektapanah, allerdings nicht als Soldat, sondern als Fotograf. Seine Bilder hat er bis heute nicht veröffentlicht. Die Formensprache des iranischen Neorealismus mag inzwischen epigonal erscheinen, angesichts der westlichen Verrenkungen bezüglich des Islambilds wirkt sie aber sachlich und nüchtern. «Djomeh» macht hier keine Ausnahme. Die letzten Einstellungen wirken wie gut gewählte Schlusssätze, die der erzählten Geschichte unvermittelt zusätzliche Tiefe und Komplexität verleihen. Das wirkt ganz und gar unexotisch.

© Reto Baumann, Wochenzeitung, 2001-10-11

Feinsinnige Fussnote

SELTEN IST EIN SPIELFILM AUF SO VIEL POLITISCHE AKTUALITÄT GESTOSSEN. HASSAN YEKTAPANAH NOTIERT LIEBESGESPRÄCHE AUS DEM AFGHANISCH-IRANISCHEN GRENZGEBIET.

Wahrscheinlich hätte man «Djomeh» vor dem 11. September anders gelesen, als man das heute tut. Angsichts der Attacken auf das World Trade Center und der aktuellen Vergeltungsschläge der USA fällt die Unterscheidung zwischen der fiktiven Geschichte, die der 38-jährige Hassan Yektapanah aus dem afghanisch-iranischen Grenzgebiet präsentiert, und dem Wissen um die reale Bedrohungssituation schwer. Unwillkürlich sucht man in den Bildern nach Zeichen und Erklärungen; man will die Landschaft spüren, die Menschen verstehen – und erfährt tatsächlich ungeheuer viel.

Denn anders als Samira Makhmalbaf oder Jafar Panahi, die mit ihren Spielfilmen regelmässig Kritik am repressiven iranischen Regime anbringen – oft steht die Unterdrückung der Frauen im Mittelpunkt –, weitet Yektapanah den Blick über die geografischen Grenzen hinaus. Sein Debütfilm «Djomeh» erzählt von einem afghanischen Flüchtlingsjungen, der im Iran als Milchbauer arbeitet. Der Alltag ist eintönig und karg, doch auf den täglichen Fahrten vom Hof zum Markt kommt der Jugendliche mit seinem Chef ins Gespräch. Liebenswürdig, aber ebenso hartnäckig, bohrt er nach kulturellen Differenzen. Dass man in Afghanistan sehr jung heiratet und im Iran verhältnismässig spät, ist eine davon. Im entscheidenden Moment wird Djomeh sagen: «Ich bin auch ein Muslim, nur anders.» Eine treffendere Fussnote zur Weltgeschichte kann man sich derzeit kaum vorstellen.

Allerdings würde man diesen Film kaum so bedingungslos empfehlen, wenn neben der politischen Aktualität nicht auch eine äusserst sorgfältige Filmsprache vorläge. Yektapanah war bei Abbas Kiarostami («Der Geschmack der Kirsche») in der Schule. Das sollte einem spätestens dann in den Sinn kommen, wenn hinter den klaren, statischen Halbtotalen, die Menschen, Lehmhäuser und Hügel einfangen, die Kamera in Vergessenheit gerät. «Djomeh» ist die Geschichte einer Annäherung. Einer liebenden – indem der Junge, nach vielen unnützen Einkäufen, um die Hand der Krämerstochter im Tschador anhält – und einer freundschaftlichen zwischen den beiden Männern. Der Film hält Distanz zu den Figuren und ist ihnen gerade dadurch nah; er baut auf stilistische Schlichtheit und funkelt umso mehr in jenen Szenen, in denen er mit dramaturgischen Aperçus überrascht. Die Feinsinnigkeit dieser Erzählweise hat man schon vor dem 11. September erkannt: «Djomeh» ist letztes Jahr in Cannes mit der «Caméra d'or» für den besten Erstling ausgezeichnet worden

© Nicole Hess, Tages-Anzeiger, 2001-10-19







Numafung

(Numafung)

AUF DEM DACH DER WELT
ZWISCHEN
HOLLYWOOD UND BOLLYWOOD

Die schöne Numafung lebt in einem entlegenen Limbu-Bergdorf mit dem majestätischen Himalaja als unwiderstehlicher Kulisse im Hintergrund. Ihre Heirat folgt traditionellen Gesetzen, doch bald einmal will sie ihren eigenen Weg gehen. Ein liebevoll erzählter, stimmiger Film aus einer unbekannten, auch vom Tourismus noch nicht erschlossenen Region. «Numafung» ist der erste nepalesische Spielfilm, der bei uns in die Kinos gelangt.

«Der Himalaja ist da, wo der Himmel die Erde berührt», heißt es so schön. In der Heimat der höchsten Gipfel der Welt sind nicht nur die Götter zu Hause, sondern auch Sehnsüchte und Träume vieler Menschen im fernen Westen. Die Suche nach dem mythischen Shangri-La und der Wettbewerb der Alpinisten um die der höchsten Berge des Planeten haben den Himalaja zu einer idealen Projektionsfläche für die Bedürfnisse der westlich-industrialisierten Welt gemacht.

An westlichen Reiseberichten, Religionshandbüchern und Filmproduktionen zum Thema scheint es kaum zu fehlen. Authentische Stimmen und vor Ort verwurzelte Geschichten der Menschen, die im Himalaja leben, gelangten jedoch bisher nur sehr spärlich in den Westen. Während Tibet nur schon aus politischen Gründen im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit präsent ist, so ist das angrenzende Nepal vor allem als Bergsteigerparadies bekannt und als eines der ärmsten Länder der Welt, welches stark von der internationalen Entwicklungshilfe abhängig ist. So durfte man vor einigen Jahren aufhorchen, als der junge Filmemacher Nabin Subba aus Nepal mit dem 1996 entstandenen Dokumentarfilm «Khangri» beim Bergfilmfestival in Graz den Jurypreis gewann. Er wirft darin einen kritischen Blick auf die Stellung der Sherpa in den von Ausländern dominierten Bergsteigerexpeditionen Nepals.

VIELVÖLKERSTAAT

Der 1968 in Nepal geborene Filmemacher gehört zur ethnischen Gruppe der Limbu, die im Osten Nepals, aber auch im indischen Sikkim und Darjeeling lebt und sich durch Sprache, Traditionen und Religion von den anderen Ethnien des Landes teilweise stark unterscheidet. Sie sind mongolischer Abstammung und gehören damit zu den Tibeto-Birmanen, nebst den Indo-Ariern die wichtigste Volksgruppe Nepals. Der Anteil der Limbu an der nepalesischen Bevölkerung beträgt gerade mal 1,5 Prozent. Ihre Haupteinkommensquelle ist die Landwirtschaft. Ihr sprichwörtlicher Mut und ihre Ausdauer machten sie zu begehrten Kämpfern, die zusammen mit Vertretern anderer ethnischer Gruppen von der britischen Armee rekrutiert wurden und deren berühmte Gurkha-Einheiten bildeten. So verbrachte auch Nabin Subba, dessen Vater der britischen Armee diente, einen großen Teil seiner Kindheit in Hongkong und Südostasien, wo sein Vater stationiert war. Umso mehr drängte es ihn, wie er im Gespräch erzählt, mehr über seine eigenen Wurzeln und die Kultur und Lebensweise der Limbu zu erfahren.

Die Stellung der Frau in der Limbu-Gesellschaft interessiert ihn dabei besonders. Er empfindet die Haltung der Limbu gegenüber den Frauen grundsätzlich als liberaler als zum Beispiel in der stark hinduistisch geprägten übrigen nepalesischen Gesellschaft. Es fasziniert ihn, dass man bei den Limbu matriarchale Spuren findet, die wiederum in Konflikt mit den vorherrschenden patriarchalen Strukturen treten. Das ist beispielsweise bei der genannten Sitte der Fall, bei der die Familie des Bräutigams Brautgeld entrichten muss, was dem Brauch der Mitgift in der hinduistischen Gesellschaft völlig entgegengesetzt ist. Was bei den Limbu ursprünglich als Schutz für die Braut gedacht ist, hat sich als Mittel herausgestellt, mit welchem die Autorität und Macht des Vaters und Ehemannes über die Tochter und die Gattin zementiert wird. Begeht die Frau Ehebruch, postuliert die Tradition, dass ihre Familie der Familie des geprellten Gatten eine Entschädigung in der Höhe des doppelten Brautpreises entrichtet.

HEIRATSTRADITION DER LIMBU

Bereits in seinem ersten, 1992 für das staatliche nepalesische Fernsehen entstandenen Kurzfilm «Tareba» setzte sich Nabin Subba kritisch mit der Heiratstradition der Limbu auseinander. Nach dem Erfolg seines zweiten Films «Khangri», beschloss er, sich wiederum den Limbu zuzuwenden, diesmal aber, wie er sagt, um einen besseren Film zu machen, der sowohl für das Publikum in Nepal als auch im Ausland attraktiv sein würde. So entstand die Idee zu seinem dritten Film «Numafung», an dessen Realisierung er fünf Jahre arbeitete und für welchen er intensive Recherchen betrieb.

ERSTMALIGES FILMPROJEKT

Die Handlung basiert auf der Erzählung «Karuwar ki Gharbhar» (was ungefähr ‘Liebe oder Geschäft› bedeutet) von Kajiman Kandangwa, die als erste Kurzgeschichte der modernen Limbu-Literatur und als Standardwerk im Schulunterricht der Limbu-Gemeinschaften Nepal und in Indien gilt. Der 2003 verstorbene Autor hat die moderne Sprache und Kultur der Limbu maßgeblich bereichert und war auch als Politiker in Nepal aktiv. Nach der Fertigstellung des Drehbuchs, das Nabin Subba selbst verfasste, erwies sich die Suche nach Produktionsgeldern als sehr schwierig. Ein solches Filmprojekt hatte es in Nepal bisher nicht gegeben.

IN WUNDERBARER BERGLANDSCHAFT

Schwierig war und ist es laut Nabin Subba, in Nepal Geldgeber für ein Filmprojekt zu finden, das einer alternativen Auffassung von Filmkultur entspricht: Es will nepalesische Geschichten in den Vordergrund rücken, die die Realität Nepals widerspiegeln und auf die beim Publikum beliebten Sing- und Tanzszenen der kommerziell ausgerichteten Produktionen verzichten. Subba schaffte es, die Mittel zusammenzubringen, und konnte mit den Dreharbeiten zu «Numafung» in der wunderbaren Berglandschaft des Panchthar Distrikts im Lebensgebiet der Limbu beginnen.

Der Spielfilm handelt von der jungen Limbu Numafung – was so viel wie schöne Blume bedeutet –, die gegen ihren Willen von ihrem Vater zwei Mal verheiratet wird. Die erste Ehe endet nach dem Tod des verunfallten Ehegatten und der darauf folgenden Fehlgeburt, die zur Rückkehr in die eigene Familie führt. Die Verbindung mit dem gewalttätigen zweiten Gatten findet ein Ende, als Numafung eines Tages vor Verzweiflung ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt und mit dem Mann, in welchen sie sich noch vor der Wiederverheiratung verliebt hat, flieht. Wie der Limbu-Brauch es vorschreibt, fordern der Verlassene und seine Familie daraufhin den doppelten Brautpreis bei Numafungs Familie ein. Um dieser Forderung nachzukommen, überschreibt Numafungs Vater sein Haus dem Schwiegersohn und ist damit gezwungen, mit seiner Familie wegzuziehen und fortan die Felder anderer Leute zu bearbeiten, um überleben zu können,

SCHALK UND NAIVITÄT

Subba erzählt diese berührende Geschichte stimmig und liebevoll aus der Perspektive von Numafungs Jüngerer Schwester Lojina. In einer Mischung aus klugem Schalk und kindlicher Naivität nimmt sie an den Ereignissen und bitteren Erfahrungen im Leben ihrer älteren Schwester teil. Er unterteilt das Geschehen entsprechend in fünf Kapitel, die jeweils aus Lojinas Sicht betitelt sind und mit zur warmen und humorvollen Atmosphäre des Films beitragen.

Subbas Haltung in «Numafung» ist trotz der unmissverständlichen Kritik von einem spürbaren Respekt vor den Menschen und ihrer Kultur geprägt Er prangert zwar einen Brauch an, der ursprünglich einer positiven Idee entspringt, aber die Frauen stark benachteiligt und einschränkt. Aber er zeigt in seinem Film selbstbewusste, starke Frauen, die über Generationen und verwandtschaftliche Beziehungen hinweg miteinander verbunden sind. So findet zum Beispiel Numafung gerade bei ihrer Großmutter und den beiden Schwiegermüttern Verständnis, und Unterstützung, obwohl diese nicht viel zur Verbesserung ihrer Situation beitragen können. Letztendlich muss sie selber die Kraft und den Mut aufbringen, den eigenen Weg zu gehen. Im Gespräch betont Nabin Subba, dass er den in seinem Film thematisierten Wandel in dem Sinne versteht, dass sich unterschiedliche Kulturen im Zusammenleben mit der Zeit zwangsläufig vermischen. Die davon betroffenen Menschen sollen selber entscheiden können wie sie damit umgehen.

EIN MEILENSTEIN IN NEPALS KINO

In Nepal hat «Numafung» sowohl heim Publikum als auch in der Presse nach seinem Kinostart im Sommer 2002 begeisterte Reaktionen ausgelöst. Die englischsprachige Zeitung «The Himalajan Times» erinnerte auch ein Jahr nach dem Kinostart von «Numafung» daran, dass die westliche Filmindustrie mehr denn je aus orientalischen Themen Kapital schlage und rief die nepalesischen Filmschaffenden dazu auf, sich vom reichen kulturellen Erbe ihrer Heimat inspirieren zu lassen.

Besondere Erwähnung fand in den nepalesischen Medien außerdem, dass im Film sowohl Nepalesisch als auch Limbu gesprochen wird. Angesichts der Tatsache, dass rund siebzig Prozent der in Nepal gezeigten Kinofilme Hindi gesprochen sind und wegen der engen Verwandtschaft der beiden Sprachen weder synchronisiert noch mit Untertiteln versehen werden, scheint dieser Punkt tatsächlich erwähnenswert. Die ältere Generation in «Numafung» spricht ausschließlich Limbu, während die mittlere beide Sprachen und die jüngere Generation nur Nepalesisch spricht. Nabin Subba erklärt, er habe darauf aufmerksam machen wollen, dass viele Sprachen in Nepal vom Aussterben bedroht seien. Er appelliert an den Staat, aber auch an die ethnischen Gruppen selber, ihre Sprachen zu pflegen und zu schützen.

© Nathalie Bao, gekürzt wiedergegeben aus dem trigon-film Magazin Nr. 25

Regisseur Nabin Subba, der selbst der Gruppe der Limbu angehört, wuchs in Malaysia, Brunei und Hongkong auf, bevor er nach Nepal zurückkehrte und sich einen Namen als Dokumentarfilm-Regisseur machte. Die Limbu sind mongolischer Abstammung und leben zurückgezogen im Osten Nepals – so zurückgezogen, dass bisher kein Limbu Schauspieler geworden ist. Deshalb besetzte der junge und engagierte Regisseur – immer auf Authentizität bedacht – sämtliche Rollen mit Laiendarstellern. Diese stürzen sich denn auch geradezu in ihre Aufgabe und machen mit ihrem Eifer den Film zu einem warmen und humorvollen Erlebnis. Trotz unmissverständlicher Kritik des Regisseurs an einer alten Heiratstradition aus seiner Heimat, vermittelt «Numafung» ein respektvolles Bild der Limbu und ihrer Tradition.

Bericht zu Numafung in der nepalesischen Presse

(Das Original auf Englisch ist in der Zeitung "Nepal Times" erschienen)

Numa's Welt

Numafung gewährt einen tiefen Einblick in den Mikrokosmos des Lebens nepalesischer Frauen.

Bewegend ist der Abschied Numa's von ihrer jüngeren Schwester. Immer wieder betont sie wie sehr sie ihre Eltern doch liebt, dass es ihr gut gehen wird und bittet die Schwester dass sie sich doch auch um die Großmutter kümmern möge. So endet der Film Numafung. Die Zuschauer sind ganz augenscheinlich etwas verwirrt, auch ein wenig verärgert weil ihnen Regisseur Nabin Subba keine einfachen Schlussfolgerungen aus seiner Geschichte vom Limbu-Mädchen Numafung «Schöne Blume» aus Lepcha präsentiert.

Nepalesischen Filmen fehlte immer schon Originalität, das gewisse Etwas. Bestenfalls waren sie eine schlechte Kopie der Filme aus Bollywood im benachbarten Indien. Mit Nabins Film ist das anders. Er erinnert viele Nepalesen an ihre eigenen Kindertage in Bergdörfern wo sie auf Bäume kletterten und Hühner und Ziegen jagten:

Numa repräsentiert eine typische, heutige nepalesische Frau – zerrissen zwischen Pflicht und Selbsterfüllung, dem Wunsch etwas zu erreichen aber gefesselt von Normen und Ritualen der Gesellschaft. Je «fortschrittlicher» jedoch die Gesellschaft ist, desto mehr ist die moderne nepalesische Frau an traditionelle Konzepte wie etwa Familienehre gekettet.

Seit März 2002 habe ich «Numafung» elf Mal gesehen und ich hatte sogar das Glück den Film nach Sikkim, Lepcha zu begleiten. Numa selbst entscheidet sich zum Schluss für den unpopulären Weg obwohl der für sie wahrscheinlich wesentlich anstrengender sein wird als wenn sie sich mit den Eigenheiten eines Ehemannes der für ihre emotionalen und physischen Bedürfnisse als Frau unempfänglich ist, zu arrangieren versuchen würde. Aber ist es nicht genau das womit viele nepalesische Frauen heute konfrontiert sind? Nur zu oft kehren erfolgreiche Karrierefrauen am Abend zu gefühllosen Ehemännern wie Girihang zurück, die viel Lärm um nichts machen nur um ihre Unzulänglichkeiten zu vertuschen.

Nabin Subba zeigt Numa's Verhältnis zu ihren beiden Ehemännern mit sehr viel Gefühl und Verständnis. Die natürliche Freude und die Freundschaft welche zu einer belastbaren, von Liebe und Sorge geprägten Ehegemeinschaft hätten heranreifen können, enden abrupt. Von den Zusehern die ich beobachten konnte waren viele zutiefst gerührt als Numa eine handvoll Erde in das Grab ihres Gatten schüttete. Ganz anders Girihang, ihr zweiter Ehemann, der Numa eher wie eine Ware behandelt, einzig und allein dazu da, um seine physischen Bedürfnisse zu befriedigen während sie Abend für Abend weinend einschläft. Die einfühlsame Behandlung emotionaler Szenen einer ehelichen Disharmonie ist schon aus dem Grund bemerkenswert, da der Regisseur selbst unverheiratet ist.

Ihre jüngere Schwester Lojina beobachtet das Leben Numa's und nur manchmal rebelliert sie leise. Nur ganz am Ende gibt es einen Fingerzeig wohin sie die Zukunft führen wird: in einer symbolischen Geste pflückt sie eine wilde Blume wie um uns, dem Publikum zu sagen, dass sie Numa's Platz einnehmen und die Verantwortung von ihr übernehmen wird. Das ist eine ziemlich eindrucksvolle Art zu zeigen, dass die traditionelle Rolle der Frau in Nepal unverändert weiterlebt.

Im Film «Numafung» sind die Mütter bestenfalls Zuseher. Zwar scheinen sie Numa's Bedürfnisse und Ängste sehr wohl zu verstehen aber im Gegensatz zu den Männern sind sie unfähig Änderungen auch durchzusetzen. Aber ist es nicht so, dass wir moderne selbständige Frauen die wir nun einmal sind, nicht vor dem gleichen Problem stehen? Auch heute sind, allen Bestrebungen zum Trotz gibt es sehr wenige weibliche Entscheidungsträger an der Spitze größerer Unternehmen, der Polizei, des Militärs oder in der Regierung. Wo sind die Power-Frauen?

Wir, die Frauen in Nepal, scheinen uns bewegt zu haben, aber haben wir uns wirklich bewegt? Wir haben, wie Numa, Träume, ein starkes Bedürfnis etwas zu erreichen und suchen unseren Weg diese Ziele auch zu erreichen. Wir sind im Kreis gegangen und wieder dort angelangt, wo wir schon einmal waren. Ist das auch wirklich wohin wir wollten? Wie Nabin Subba, durch seine Stimme Numafung, fragen uns auch wir was wir wollen und wie wir das erreichen können.

Renchin Yonjan ist «social architect», Unternehmerin und Umweltaktivistin in Katmandu und enthusiastischer Kinofan.

©2003, Mercantile Communications Pvt. Ltd.


Nepals bekanntester Filmemacher: Nabin Subba



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