(Das verborgene Gesicht)
Das magische, eindringliche Werk Ömer Kavurs lässt sich kaum mit
Worten erzählen: ein meditatives Gedicht des Sufismus, das einen
weit davonträgt. Ein Film für unsere Zeit, die sich des Wesens
der Zeit und der Mystik der Zeitlosigkeit nicht mehr bewusst ist. Ein
Film auch über die Fähigkeit, sich Zeit zu nehmen, zu beobachten,
zu erzählen – zu sein. Ein Film schließlich über die
Einzigartigkeit des einzelnen, der doch nur wieder Teil ist des
unergründlichen Ganzen, mit dem er verschmilzt. „Das verborgene
Gesicht” führt ins Reich jener Imagination, die auszuloten
keinem Menschen je möglich ist und in der alle Geheimnisse des
wahren Lebens und jeder Glückssuche liegen. So sucht letztlich
der Fotograf den vergessenen Traum, der in sein inneres gedrungen ist:
Von diesem Traum entfernt, ist Leben bloß Traurigkeit und Qual.
Und vom Wesen der Uhren, die ohne Seele sterben und mit einem fremden
Ersatzteil nicht zu retten sind, erfährt der Mann, dass sein Weg
über die ersehnte Liebe zu einem Menschen weit hinausgeht. Die
Filmreise ist längst eine innere Reise geworden, die den
flüchtigen, trügerischen Augenblick überwindet. Am Schluss
des Films findet der Mann zur Befreiung, wo er lächelnd einen Baum
betrachten kann: jenseits der Unruhe des Wartens, Sehnens, Erwartens.
Analog zum zenbuddhistischen Bestseller „Die Kunst des
Bogenschießens” könnte dieser meisterhafte Film den Titel
„Die Kunst des Seins” tragen.
Anguruzuminabstafil
Diese Sufi-Geschichte steht am Anfang der Hintergrundinformationen zum
diesjährigen SüdFILMfest weil sie, vielleicht mehr als andere
Geschichten, auch das Motto des Filmfestes, insbesondere aber auch des
«Fests für Freunde» sein könnte.
Die Geschichte stammt aus dem Buch «Die Sufis –
Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier» von Idried Shah,
erschienen 1976/1990 im Eugen Diederichs Verlag, München.
«Wir kennen», sagt der Derwisch, «ein Wort, das beschreibt,
was wir tun, und fasst unsere Art zu denken, zusammen. Durch dieses Wort
wirst du den wahren Grund für unsere Existenz verstehen aber auch,
warum die Menschen im Allgemeinen miteinander im Streit liegen. Das Wort
heißt: Anguruzuminabstafil». Und er erläuterte das
Wort durch eine alte Sufi-Geschichte:
Vier Männer, ein Perser, ein Türke, ein Araber und ein Grieche,
standen auf einer Dorfstraße. Sie waren Reisegefährten,
unterwegs zu einem fernen Ort. Gerade jetzt aber stritten sie sich,
wie sie das einzige Geldstück, das sie noch besaßen, ausgeben
sollten. «Ich möchte angur kaufen", sagte der Perser.
«Und ich will uzum», meinte der Türke. «Nein,
ich will inab», sagte der Araber. «Ach was!»,
sagte der Grieche, «wir sollten unbedingt stafil kaufen.»
Ein anderer Reisender, einer der die Menschen kennt und versteht, der
gerade vorüberkam, sprach sie an: «Gebt mir die Münze.
Ich werde einen Weg finden, euer aller Wünsche zu befriedigen!»
Zuerst wollten sie ihm nicht trauen, aber schließlich gaben sie
ihm die Münze. Er ging zum Stand eines Obsthändlers und kaufte
vier kleine Bündel Weintrauben. «Das ist ja mein
angur», sagte der Perser. «Das ist doch genau das,
was ich uzum nenne", rief der Türke aus. «Sie haben mir
inab gebracht", sagte der Araber. «Ach was!», meinte
der Grieche, «in meiner Sprache heißt das stafil». Die
Männer teilten sich die Weintrauben, und jeder erkannte, dass
der ganze Streit nur auf seinem Missverstehen der Sprache der anderen
beruhte.
Dialoge aus dem Drehbuch
Fotograf (im Laden des Uhrmachers): Etwas stimmt nicht, aber ich
weiß nicht, was... – Ich dachte, Uhren gehen nicht mehr kaputt...
Uhrmacher: Warum?
Fotograf: Uhren sind nicht mehr handgemacht...
Uhrmacher: Aber deine ist Handarbeit... Hörst du, sie
geht... – die Feder war lose... Wie hast du verstanden, dass
etwas nicht stimmte?
Fotograf: Ich hab's gemerkt... – sie hat mich beunruhigt...
Uhrmacher: Wenn jeder so empfindsam wäre, würde die Welt
anders aussehen... Ich setze ihr ein Teilchen ein, an das niemand
denken würde... Weder die Uhr noch du, keiner wird mehr unruhig
sein...
Fotograf: Muss man, um friedvoll zu sein, in so einem Laden arbeiten?
Uhrmacher: Nicht im Laden, in den Uhren steckt das Geheimnis...
Fotograf: Was ist das Geheimnis?
Uhrmacher: Genau weiß ich's nicht... Aber ich schließe
den Laden abends und gehe heim... Das Haus ist still... So still, dass
ich meine, die Uhren im Laden ticken zu hören... Ich denke an die
Uhren, wie sie nach dem Schließen von Tür und Rollladen im
Dunkeln weiterticken... Alle gleichzeitig im leeren, dunklen Laden...
Und das, junger Mann, beunruhigt mich... – So, erledigt!
(...)
Fotograf: Was wünschen Sie sich im Leben am meisten?
Uhrmacher: Den Menschen die Uhren zu erzählen. Die
Feinheit der Mechanismen, das Unheimliche der Federn, das Dunkle des
Räderwerks... Heute weiß doch keiner mehr, was eine Uhr
ist... Vielleicht sind darum die Menschen voll Trauer, können
darum nicht von sich selbst erzählen... Sie spüren nicht
einmal die Seele hinter den Stunden- und Minutenzeigern... Ich
möchte ihnen das Geheimnis der Uhren erzählen... Dann
würden sie aufwachen und die Welt mit neuen Augen sehen...
Wären ihren Kummer los, könnten sogar ihre Geschichte
erzählen...
(...)
Trödler (zum Fotografen, am Schluss des Films): Sieh mal
an, du gefällst mir, guter Freund! Hier ist eine Geschichte von mir
für dich... Es war einmal ein Dieb, der lebte in einem fernen
Land... Ein Träumedieb... – nachts drang er in die
Träume der friedlich Schlafenden, stahl und füllte seinen
Beutel mit dem, was ihm gefiel... Die morgens Erwachenden fühlten
sich unbehaglich, innerlich hohl... Sie gingen zu einem weisen Alten,
schilderten ihm ihre Sorgen. Ein kluger Weiser war der Weise. Er sagte,
erzählt mir eure Hoffnungen, wenn ihr schon eure Träume verloren
habt... Doch die Unglücklichen konnten sich einfach nicht daran
erinnern, was ihnen aus dem Traum gestohlen worden war... Da sie's
vergessen hatten, konnten sie auch keine Hoffnungen ersinnen...
Warum wohl? Weil ihre Träume in meinem Beutel sind, deswegen...
Haha, so ist das... Ein Spiegel, ein Bügeleisen, eine Lampe...
Hahaha...
Ende
Die Brücke zur wahren Wirklichkeit
Die folgenden Texte wollen mitnichten den Anspruch erheben, dem Sufismus
gerecht zu werden. Bezugspunkt für die Auswahl bleibt Ömer Kavurs
«Das verborgene Gesicht»: Die thematisch gegliederten Zitate
können in diesem Zusammenhang zu vertieften und weitergehenden
Gedanken und Interpretationen anstoßen sowie das Gesehene erweitern.
Wenn dabei Anregungen, sich näher mit dem Sufismus auseinanderzusetzen,
erfolgen, ist dies freilich kein unbeabsichtigter Nebeneffekt.
Ich fragte einen Jungen, der eine Kerze trug: «Von woher kommt das
Licht?» Sofort blies er es aus. «Sag mir, wohin es ging –
dann sage ich dir, woher es kam.»
(Hasan von Basra )
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(Der Junge Djomeh)
Ein Afghane im iranischen Exil
«Let's face it», schrieb der Filmkritiker und -historiker
Andrew Sarris diesen 10. September im «New York Observer»
vollmundig, einen Tag vor den Anschlägen auf das World Trade Center
und das Pentagon, «die Zensur im Iran ist so rigoros, als wäre
die in den dreissiger Jahren von katholischen Kreisen gegründete
'legion of decency' die amerikanische bürgerliche Freiheitsunion».
Let's face it: In diesem Satz schwingt ein unangenehmer Unterton mit.
Sarris billigt den iranischen Filmemachern zu, aus der Not eine Tugend
gemacht zu haben; argumentiert dabei allerdings vom hohen Ross der USA
herab: Weil sich iranische Filmemacher keine Spezialeffekte und kein
digitales Spektakel leisten könnten, seien sie zu den Wurzeln des
Kinos zurückgekehrt und hätten sich dem «gewöhnlichen
Leben ihrer Leute» zugewandt. Und: «Das Resultat ist ein
gewisser Exotizismus.» Wenngleich Sarris' Interesse an der
islamischen Welt in den vergangenen Wochen zugenommen haben dürfte,
so wird sie für ihn wohl noch immer erst mal bloss jene
«rückständige» Welt meinen, die Männern wie
Frauen «unüberwindbare Hemmungen» auferlege, wie er
auch schreibt.
Anlass für Sarris' Artikel war Hassan Yektapanahs «Djomeh»,
ein Film, den man mit etwas mehr Sinn für Feinheiten schon vor
dem 11. September anders hätte lesen können, der aber
durch die jüngsten Ereignisse ungewollt an zusätzlicher
politischer Brisanz gewonnen hat. Denn wie in anderen aktuellen
iranischen Werken - «Baran» von Majid Majidi oder
«Delbaran» von Abolfazl Jalili - wird auch in
«Djomeh» die Situation afghanischer Flüchtlinge
thematisiert. 1,2 Millionen Afghanen leben im Iran offiziell in Lagern,
unzählige weitere klandestin, «sans papiers».
Yektapanah spricht von insgesamt fast vier Millionen Afghanen auf
iranischem Boden. Das war vor den Anschlägen.
Einer dieser Flüchtlinge ist Jalil Nazari, der in «Djomeh»
die gleichnamige Hauptfigur verkörpert. Wenn er im Film als einer
von zwei afghanischen Landarbeitern auf einem Bauernhof in der kargen,
bergigen Grenzregion für den Molkereibesitzer Agha Mahmoud arbeitet,
so spielt er gewissermassen auch sich selbst – nämlich den
Flüchtling, der sich zu integrieren versucht, der aber seinen Status
als Aussenseiter tagtäglich auf der Milchtour zu spüren bekommt:
Mal wird er beim Wägen der Milch hintergangen, dann wieder spielen
ihm die Kinder Streiche am Laufmeter. Am schmerzvollsten aber sind die
dauernden Heiratsfeste im Dorf: Bei jedem Besuch ist er mit einem solchen
konfrontiert. Wenn er also seinen Boss bittet, beim Ladenbesitzer des
Ortes für ihn um die Hand dessen Tochter anzuhalten, so spiegelt
sich darin nicht nur Leidenschaft oder Verpflichtung der Tradition
gegenüber – in Afghanistan wird, sagt er, schief angeschaut,
wer bis zwanzig nicht geehelicht hat, sondern ebenso sein Verlangen nach
Zugehörigkeit.
Vor dem Hintergrund alltäglicher Routine entfaltet «Djomeh»
unspektakulär ein Bild ethnografischer Qualität, Schattierungen
von Drama wie Komödie inbegriffen. Herzstück sind dabei die
Über-Land-Autofahrten von Djomeh und seinem Chef, wobei der
Führerstand als eine Art Druckkammer funktioniert, so ähnlich
wie dies in «Geschmack der Kirsche» von Yektapanahs Mentor
und Lehrer Abbas Kiarostami der Fall war. Die Enge intensiviert Beziehungen,
und so wie beiläufig der Hintergrund dem Innenleben des jeweiligen
Protagonisten zugeordnet ist – hinter dem verliebten Djomeh
grünt es in der Landschaft, während hinter dem mittelalten
Junggesellen Mahmoud nur Wüste zu sehen ist –, nähern
sich die beiden nicht nur dem andern, sondern auch sich selbst. Dass der
Afghane Sunnite und der Iraner Schiite ist, spielt keine Rolle, ebenso
wenig der potenzielle Generationenkonflikt.
Die Schwierigkeit des Exils, erlebbar gemacht anhand eines Stücks
Strasse im Ödland. Die Ereignislosigkeit der Landschaft findet in
der statischen Kamera und der seriellen Montage stilistisch ihre
Entsprechung, zwischenzeitlich sind die Bilder tableauhaft, beinahe
gemalt. Lange Einstellungen, ein betont dokumentarischer Touch,
ökonomische Schnitte und eine fast verleugnete Kamera. Der Film
soll dem Alltag möglichst gleichen. Durch Stimmen und Gesten wird
permanent auf ein Aussen verwiesen; die Welt ist immer grösser als
die, die wir als Alltag sehen. Dahinter spürbar ist die Erfahrung
des Krieges. Denn mit Krieg hat der iranische Neorealismus mindestens
so viel zu tun wie mit Zensur. Als der Iran-Irak-Konflikt 1980 begonnen
hatte, gingen unzählige Junge an die Front, auch Yektapanah,
allerdings nicht als Soldat, sondern als Fotograf. Seine Bilder hat er
bis heute nicht veröffentlicht. Die Formensprache des iranischen
Neorealismus mag inzwischen epigonal erscheinen, angesichts der
westlichen Verrenkungen bezüglich des Islambilds wirkt sie aber
sachlich und nüchtern. «Djomeh» macht hier keine
Ausnahme. Die letzten Einstellungen wirken wie gut gewählte
Schlusssätze, die der erzählten Geschichte unvermittelt
zusätzliche Tiefe und Komplexität verleihen. Das wirkt ganz
und gar unexotisch.
© Reto Baumann, Wochenzeitung, 2001-10-11
Feinsinnige Fussnote
SELTEN IST EIN SPIELFILM AUF SO VIEL POLITISCHE AKTUALITÄT GESTOSSEN.
HASSAN YEKTAPANAH NOTIERT LIEBESGESPRÄCHE AUS DEM AFGHANISCH-IRANISCHEN
GRENZGEBIET.
Wahrscheinlich hätte man «Djomeh» vor dem 11. September
anders gelesen, als man das heute tut. Angsichts der Attacken auf das
World Trade Center und der aktuellen Vergeltungsschläge der USA
fällt die Unterscheidung zwischen der fiktiven Geschichte, die
der 38-jährige Hassan Yektapanah aus dem afghanisch-iranischen
Grenzgebiet präsentiert, und dem Wissen um die reale Bedrohungssituation
schwer. Unwillkürlich sucht man in den Bildern nach Zeichen und
Erklärungen; man will die Landschaft spüren, die Menschen
verstehen – und erfährt tatsächlich ungeheuer viel.
Denn anders als Samira Makhmalbaf oder Jafar Panahi, die mit ihren
Spielfilmen regelmässig Kritik am repressiven iranischen Regime
anbringen – oft steht die Unterdrückung der Frauen im
Mittelpunkt –, weitet Yektapanah den Blick über die
geografischen Grenzen hinaus. Sein Debütfilm «Djomeh»
erzählt von einem afghanischen Flüchtlingsjungen, der im
Iran als Milchbauer arbeitet. Der Alltag ist eintönig und karg,
doch auf den täglichen Fahrten vom Hof zum Markt kommt der
Jugendliche mit seinem Chef ins Gespräch. Liebenswürdig,
aber ebenso hartnäckig, bohrt er nach kulturellen Differenzen.
Dass man in Afghanistan sehr jung heiratet und im Iran
verhältnismässig spät, ist eine davon. Im entscheidenden
Moment wird Djomeh sagen: «Ich bin auch ein Muslim, nur
anders.» Eine treffendere Fussnote zur Weltgeschichte kann man sich
derzeit kaum vorstellen.
Allerdings würde man diesen Film kaum so bedingungslos empfehlen,
wenn neben der politischen Aktualität nicht auch eine äusserst
sorgfältige Filmsprache vorläge. Yektapanah war bei Abbas
Kiarostami («Der Geschmack der Kirsche») in der Schule.
Das sollte einem spätestens dann in den Sinn kommen, wenn hinter
den klaren, statischen Halbtotalen, die Menschen, Lehmhäuser und
Hügel einfangen, die Kamera in Vergessenheit gerät.
«Djomeh» ist die Geschichte einer Annäherung. Einer
liebenden – indem der Junge, nach vielen unnützen Einkäufen,
um die Hand der Krämerstochter im Tschador anhält – und
einer freundschaftlichen zwischen den beiden Männern. Der Film
hält Distanz zu den Figuren und ist ihnen gerade dadurch nah;
er baut auf stilistische Schlichtheit und funkelt umso mehr in jenen
Szenen, in denen er mit dramaturgischen Aperçus überrascht. Die
Feinsinnigkeit dieser Erzählweise hat man schon vor dem
11. September erkannt: «Djomeh» ist letztes Jahr in Cannes
mit der «Caméra d'or» für den besten Erstling
ausgezeichnet worden
© Nicole Hess, Tages-Anzeiger, 2001-10-19
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(Numafung)
AUF DEM DACH DER WELT ZWISCHEN HOLLYWOOD UND BOLLYWOOD
Die schöne Numafung lebt in einem entlegenen Limbu-Bergdorf mit dem
majestätischen Himalaja als unwiderstehlicher Kulisse im Hintergrund.
Ihre Heirat folgt traditionellen Gesetzen, doch bald einmal will sie ihren
eigenen Weg gehen. Ein liebevoll erzählter, stimmiger Film aus einer
unbekannten, auch vom Tourismus noch nicht erschlossenen Region.
«Numafung» ist der erste nepalesische Spielfilm, der bei uns
in die Kinos gelangt.
«Der Himalaja ist da, wo der Himmel die Erde berührt», heißt
es so schön. In der Heimat der höchsten Gipfel der Welt sind nicht
nur die Götter zu Hause, sondern auch Sehnsüchte und Träume
vieler Menschen im fernen Westen. Die Suche nach dem mythischen Shangri-La
und der Wettbewerb der Alpinisten um die der höchsten
Berge des Planeten haben den Himalaja zu einer idealen
Projektionsfläche für die Bedürfnisse der
westlich-industrialisierten Welt gemacht.
An westlichen Reiseberichten, Religionshandbüchern und
Filmproduktionen zum Thema scheint es kaum zu fehlen. Authentische Stimmen
und vor Ort verwurzelte Geschichten der Menschen, die im Himalaja leben,
gelangten jedoch bisher nur sehr spärlich in den Westen. Während
Tibet nur schon aus politischen Gründen im Bewusstsein der westlichen
Öffentlichkeit präsent ist, so ist das angrenzende Nepal vor
allem als Bergsteigerparadies bekannt und als eines der ärmsten
Länder der Welt, welches stark von der internationalen
Entwicklungshilfe abhängig ist.
So durfte man vor einigen Jahren aufhorchen, als der junge Filmemacher Nabin
Subba aus Nepal mit dem 1996 entstandenen Dokumentarfilm «Khangri»
beim Bergfilmfestival in Graz den Jurypreis gewann. Er wirft darin einen
kritischen Blick auf die Stellung der Sherpa in den von Ausländern
dominierten Bergsteigerexpeditionen Nepals.
VIELVÖLKERSTAAT
Der 1968 in Nepal geborene Filmemacher gehört zur ethnischen Gruppe
der Limbu, die im Osten Nepals, aber auch im indischen Sikkim und
Darjeeling lebt und sich durch Sprache, Traditionen und Religion von den
anderen Ethnien des Landes teilweise stark unterscheidet. Sie sind
mongolischer Abstammung und gehören damit zu den Tibeto-Birmanen,
nebst den Indo-Ariern die wichtigste Volksgruppe Nepals. Der Anteil der
Limbu an der nepalesischen Bevölkerung beträgt gerade mal 1,5
Prozent. Ihre Haupteinkommensquelle ist die Landwirtschaft. Ihr
sprichwörtlicher Mut und ihre Ausdauer machten sie zu begehrten
Kämpfern, die zusammen mit Vertretern anderer ethnischer Gruppen von
der britischen Armee rekrutiert wurden und deren berühmte
Gurkha-Einheiten bildeten. So verbrachte auch Nabin Subba, dessen Vater der
britischen Armee diente, einen großen Teil seiner Kindheit in Hongkong und
Südostasien, wo sein Vater stationiert war. Umso mehr drängte es
ihn, wie er im Gespräch erzählt, mehr über seine eigenen
Wurzeln und die Kultur und Lebensweise der Limbu zu erfahren.
Die Stellung der Frau in der Limbu-Gesellschaft interessiert ihn dabei
besonders. Er empfindet die Haltung der Limbu gegenüber den Frauen
grundsätzlich als liberaler als zum Beispiel in der stark hinduistisch
geprägten übrigen nepalesischen Gesellschaft. Es fasziniert ihn,
dass man bei den Limbu matriarchale Spuren findet, die wiederum in Konflikt
mit den vorherrschenden patriarchalen Strukturen treten. Das ist
beispielsweise bei der genannten Sitte der Fall, bei der
die Familie des Bräutigams Brautgeld entrichten muss, was dem Brauch
der Mitgift in der hinduistischen Gesellschaft völlig entgegengesetzt
ist. Was bei den Limbu ursprünglich als Schutz für die Braut
gedacht ist, hat sich als Mittel herausgestellt, mit welchem die
Autorität und Macht des Vaters und Ehemannes über die Tochter und
die Gattin zementiert wird. Begeht die Frau Ehebruch, postuliert die
Tradition, dass ihre Familie der Familie des geprellten Gatten eine
Entschädigung in der Höhe des doppelten Brautpreises entrichtet.
HEIRATSTRADITION DER LIMBU
Bereits in seinem ersten, 1992 für das staatliche nepalesische
Fernsehen entstandenen Kurzfilm «Tareba» setzte sich Nabin Subba kritisch
mit der Heiratstradition der Limbu auseinander. Nach dem Erfolg seines
zweiten Films «Khangri», beschloss er, sich wiederum den Limbu zuzuwenden,
diesmal aber, wie er sagt, um einen besseren
Film zu machen, der sowohl für das Publikum in Nepal als auch im
Ausland attraktiv sein würde. So entstand die Idee zu seinem dritten
Film «Numafung», an dessen Realisierung er fünf Jahre arbeitete und
für welchen er intensive Recherchen betrieb.
ERSTMALIGES FILMPROJEKT
Die Handlung basiert auf der Erzählung «Karuwar ki Gharbhar»
(was ungefähr ‘Liebe oder Geschäft› bedeutet) von
Kajiman Kandangwa, die als erste Kurzgeschichte der modernen Limbu-Literatur
und als Standardwerk im Schulunterricht der Limbu-Gemeinschaften Nepal und in
Indien gilt. Der 2003 verstorbene Autor hat die moderne Sprache und Kultur
der Limbu maßgeblich bereichert und war auch als Politiker in Nepal aktiv.
Nach der Fertigstellung des Drehbuchs, das Nabin Subba selbst verfasste,
erwies sich die Suche nach Produktionsgeldern als sehr schwierig. Ein
solches Filmprojekt hatte es in Nepal bisher nicht gegeben.
IN WUNDERBARER BERGLANDSCHAFT
Schwierig war und ist es laut Nabin Subba, in Nepal Geldgeber
für ein Filmprojekt zu finden, das einer alternativen Auffassung von
Filmkultur entspricht: Es will nepalesische Geschichten in den Vordergrund
rücken, die die Realität Nepals widerspiegeln und auf die beim
Publikum beliebten Sing- und Tanzszenen der kommerziell ausgerichteten
Produktionen verzichten. Subba schaffte es, die Mittel zusammenzubringen,
und konnte mit den Dreharbeiten zu «Numafung» in der wunderbaren
Berglandschaft des Panchthar Distrikts im Lebensgebiet der Limbu beginnen.
Der Spielfilm handelt von der jungen Limbu Numafung – was so viel wie
schöne Blume bedeutet –, die gegen ihren Willen von ihrem Vater zwei
Mal verheiratet wird. Die erste Ehe endet nach dem Tod des verunfallten
Ehegatten und der darauf folgenden Fehlgeburt, die zur Rückkehr in die
eigene Familie führt. Die Verbindung mit dem gewalttätigen
zweiten Gatten findet ein Ende, als Numafung eines Tages vor Verzweiflung
ihr Schicksal in die eigenen Hände
nimmt und mit dem Mann, in welchen sie sich noch vor der Wiederverheiratung
verliebt hat, flieht. Wie der Limbu-Brauch es vorschreibt, fordern der
Verlassene und seine Familie daraufhin den doppelten Brautpreis bei
Numafungs Familie ein. Um dieser Forderung nachzukommen, überschreibt
Numafungs Vater sein Haus dem Schwiegersohn und ist damit gezwungen, mit
seiner Familie wegzuziehen und fortan die Felder anderer Leute zu
bearbeiten, um überleben zu können,
SCHALK UND NAIVITÄT
Subba erzählt diese berührende Geschichte stimmig und liebevoll
aus der Perspektive von Numafungs Jüngerer Schwester Lojina. In einer
Mischung aus klugem Schalk und kindlicher Naivität nimmt sie an den
Ereignissen und bitteren Erfahrungen im Leben ihrer älteren Schwester
teil. Er unterteilt das Geschehen entsprechend in fünf Kapitel, die
jeweils aus Lojinas Sicht betitelt sind und mit zur warmen und humorvollen
Atmosphäre des Films beitragen.
Subbas Haltung in «Numafung» ist trotz der unmissverständlichen
Kritik von einem spürbaren Respekt vor den Menschen und ihrer Kultur
geprägt Er prangert zwar einen Brauch an, der ursprünglich einer
positiven Idee entspringt, aber die Frauen stark benachteiligt und
einschränkt. Aber er zeigt in seinem Film selbstbewusste, starke
Frauen, die über Generationen und verwandtschaftliche Beziehungen
hinweg miteinander verbunden sind. So findet zum Beispiel Numafung gerade
bei ihrer Großmutter und den beiden Schwiegermüttern
Verständnis, und Unterstützung, obwohl diese nicht viel zur
Verbesserung ihrer Situation beitragen können. Letztendlich muss sie
selber die Kraft und den Mut aufbringen, den eigenen Weg zu gehen. Im
Gespräch betont Nabin Subba, dass er den in seinem Film thematisierten
Wandel in dem Sinne versteht, dass sich unterschiedliche Kulturen im
Zusammenleben mit der Zeit zwangsläufig vermischen. Die davon
betroffenen Menschen sollen selber entscheiden können wie sie damit
umgehen.
EIN MEILENSTEIN IN NEPALS KINO
In Nepal hat «Numafung» sowohl heim Publikum als auch in der Presse
nach seinem Kinostart im Sommer 2002 begeisterte Reaktionen ausgelöst.
Die englischsprachige Zeitung «The Himalajan Times»
erinnerte auch ein Jahr nach dem Kinostart von «Numafung» daran,
dass die westliche Filmindustrie mehr denn je aus orientalischen Themen
Kapital schlage und rief die nepalesischen Filmschaffenden dazu auf, sich vom
reichen kulturellen Erbe ihrer Heimat inspirieren zu lassen.
Besondere Erwähnung fand in den nepalesischen Medien außerdem, dass
im Film sowohl Nepalesisch als auch Limbu gesprochen wird. Angesichts der
Tatsache, dass rund siebzig Prozent der in Nepal gezeigten Kinofilme Hindi
gesprochen sind und wegen der engen Verwandtschaft der beiden Sprachen
weder synchronisiert noch mit Untertiteln versehen werden, scheint dieser
Punkt tatsächlich erwähnenswert. Die ältere Generation in
«Numafung» spricht ausschließlich Limbu, während die
mittlere beide Sprachen und die jüngere Generation nur Nepalesisch spricht.
Nabin Subba erklärt, er habe darauf aufmerksam machen wollen, dass viele
Sprachen in Nepal vom Aussterben bedroht seien. Er appelliert an den Staat,
aber auch an die ethnischen Gruppen selber, ihre Sprachen zu pflegen und zu
schützen.
© Nathalie Bao, gekürzt wiedergegeben aus dem
trigon-film Magazin Nr. 25
Regisseur Nabin Subba, der selbst der Gruppe der Limbu angehört, wuchs in
Malaysia, Brunei und Hongkong auf, bevor er nach Nepal zurückkehrte und
sich einen Namen als Dokumentarfilm-Regisseur machte. Die Limbu sind
mongolischer Abstammung und leben zurückgezogen im Osten Nepals –
so zurückgezogen, dass bisher kein Limbu Schauspieler geworden ist.
Deshalb besetzte der junge und engagierte Regisseur – immer auf
Authentizität bedacht – sämtliche Rollen mit Laiendarstellern.
Diese stürzen sich denn auch geradezu in ihre Aufgabe und machen mit
ihrem Eifer den Film zu einem warmen und humorvollen Erlebnis. Trotz
unmissverständlicher Kritik des Regisseurs an einer alten
Heiratstradition aus seiner Heimat, vermittelt «Numafung» ein
respektvolles Bild der Limbu und ihrer Tradition.
Bericht zu Numafung in der nepalesischen Presse
(Das Original auf Englisch ist in der Zeitung "Nepal Times" erschienen)
Numa's Welt
Numafung gewährt einen tiefen Einblick in den Mikrokosmos des Lebens
nepalesischer Frauen.
Bewegend ist der Abschied Numa's von ihrer jüngeren Schwester. Immer wieder
betont sie wie sehr sie ihre Eltern doch liebt, dass es ihr gut gehen wird
und bittet die Schwester dass sie sich doch auch um die Großmutter
kümmern möge. So endet der Film Numafung. Die Zuschauer sind ganz
augenscheinlich etwas verwirrt, auch ein wenig verärgert weil ihnen
Regisseur Nabin Subba keine einfachen Schlussfolgerungen aus seiner
Geschichte vom Limbu-Mädchen Numafung «Schöne Blume»
aus Lepcha präsentiert.
Nepalesischen Filmen fehlte immer schon Originalität, das gewisse Etwas.
Bestenfalls waren sie eine schlechte Kopie der Filme aus Bollywood im
benachbarten Indien. Mit Nabins Film ist das anders. Er erinnert viele Nepalesen
an ihre eigenen Kindertage in Bergdörfern wo sie auf Bäume kletterten
und Hühner und Ziegen jagten:
Numa repräsentiert eine typische, heutige nepalesische Frau –
zerrissen zwischen Pflicht und Selbsterfüllung, dem Wunsch etwas zu
erreichen aber gefesselt von Normen und Ritualen der Gesellschaft.
Je «fortschrittlicher» jedoch die Gesellschaft ist, desto mehr
ist die moderne nepalesische Frau an traditionelle Konzepte wie etwa
Familienehre gekettet.
Seit März 2002 habe ich «Numafung» elf Mal gesehen und ich
hatte sogar das Glück den Film nach Sikkim, Lepcha zu begleiten. Numa
selbst entscheidet sich zum Schluss für den unpopulären Weg
obwohl der für sie wahrscheinlich wesentlich anstrengender sein wird als
wenn sie sich mit den Eigenheiten eines Ehemannes der für ihre
emotionalen und physischen Bedürfnisse als Frau unempfänglich ist,
zu arrangieren versuchen würde. Aber ist es nicht genau das womit viele
nepalesische
Frauen heute konfrontiert sind? Nur zu oft kehren erfolgreiche Karrierefrauen
am Abend zu gefühllosen Ehemännern wie Girihang zurück, die
viel Lärm um nichts machen nur um ihre Unzulänglichkeiten zu
vertuschen.
Nabin Subba zeigt Numa's Verhältnis zu ihren beiden Ehemännern mit
sehr viel Gefühl und Verständnis. Die natürliche Freude und die
Freundschaft welche zu einer belastbaren, von Liebe und Sorge geprägten
Ehegemeinschaft hätten heranreifen können, enden abrupt. Von den
Zusehern die ich beobachten konnte waren viele zutiefst gerührt als Numa
eine handvoll Erde in das Grab ihres Gatten schüttete. Ganz anders
Girihang, ihr zweiter Ehemann, der Numa eher wie eine Ware behandelt, einzig
und allein dazu da, um seine physischen Bedürfnisse zu befriedigen
während sie Abend für Abend weinend einschläft. Die einfühlsame
Behandlung emotionaler Szenen einer ehelichen Disharmonie ist schon aus dem
Grund bemerkenswert, da der Regisseur selbst unverheiratet ist.
Ihre jüngere Schwester Lojina beobachtet das Leben Numa's und nur manchmal
rebelliert sie leise. Nur ganz am Ende gibt es einen Fingerzeig wohin sie die
Zukunft führen wird: in einer symbolischen Geste pflückt sie eine
wilde Blume wie um uns, dem Publikum zu sagen, dass sie Numa's Platz einnehmen
und die Verantwortung von ihr übernehmen wird. Das ist eine ziemlich
eindrucksvolle Art zu zeigen, dass die traditionelle Rolle der Frau in Nepal
unverändert weiterlebt.
Im Film «Numafung» sind die Mütter bestenfalls Zuseher. Zwar
scheinen sie Numa's Bedürfnisse und Ängste sehr wohl zu verstehen
aber im Gegensatz zu den Männern sind sie unfähig Änderungen
auch durchzusetzen. Aber ist es nicht so, dass wir moderne selbständige
Frauen die wir nun einmal sind, nicht vor dem gleichen Problem stehen? Auch
heute sind, allen Bestrebungen zum Trotz gibt es sehr wenige weibliche
Entscheidungsträger an der Spitze größerer Unternehmen, der
Polizei, des Militärs oder in der Regierung. Wo sind die Power-Frauen?
Wir, die Frauen in Nepal, scheinen uns bewegt zu haben, aber haben wir uns
wirklich bewegt? Wir haben, wie Numa, Träume, ein starkes Bedürfnis
etwas zu erreichen und suchen unseren Weg diese Ziele auch zu erreichen.
Wir sind im Kreis gegangen und wieder dort angelangt, wo wir schon einmal
waren. Ist das auch wirklich wohin wir wollten? Wie Nabin Subba, durch seine
Stimme Numafung, fragen uns auch wir was wir wollen und wie wir das
erreichen können.
Renchin Yonjan ist «social architect», Unternehmerin und
Umweltaktivistin in Katmandu und enthusiastischer Kinofan.
©2003, Mercantile Communications Pvt. Ltd.
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