Die allein erziehende Esma lebt mit ihrer 12-jährigen Tochter Sara in
Grbavica, einem Stadtteil von Sarajevo, in dem der Wiederaufbau nach den
Jugoslawienkriegen der 90er Jahre nur langsam vorangeht. Weil Esma mit der
dürftigen Unterstützung vom Staat nicht über die Runden
kommt, nimmt sie eine Stelle als Kellnerin in einem Nachtclub an. Nur
widerstrebend arbeitet Esma die Nächte hindurch, vor allem, weil sie
dann weniger Zeit für ihre Tochter hat. Esma, die noch immer
traumatisiert ist durch die gewalttätigen Ereignisse der
Vergangenheit, sucht Hilfe in einer Gruppentherapie im örtlichen
Frauenzentrum. Neben ihrer engen Freundin Sabina findet Esma einen
Seelenverwandten in Pelda, ihrem mitfühlenden Kollegen aus dem Nachtclub.
Seit Sara, ein lebhafter Wildfang, sich eng mit ihrem Klassenkameraden
Samir angefreundet hat, kommt Fussball in ihrem Leben nur noch an zweiter
Stelle. Die beiden sensiblen Teenager sind sich sehr nah - beide haben
ihren Vater im Krieg verloren. Samir ist jedoch erstaunt, als er hört,
dass Sara nichts über den Heldentod ihres Vaters zu berichten weiss.
Saras Vater wird erneut zum Thema, als Sara für einen Preisnachlass
bei der anstehenden Klassenfahrt den Nachweis benötigt, dass ihr Vater
ein Kriegsheld (shaheed) war und den Märtyrertod gestorben ist Esma
behauptet, dass es schwierig sei, den offiziellen Nachweis zu bekommen,
weil der Körper des Toten noch immer nicht gefunden wurde.
Gleichzeitig versucht Esma verzweifelt, das gesamte Geld für Saras
Klassenfahrt aufzutreiben. Als Saras Klassenkameraden sie damit
hänseln, dass sie nicht auf der Liste der Märtyrerkinder steht,
rastet Sara aus. Sie begreift, dass ihre Mutter den kompletten Preis
für sie bezahlt hat und stellt sie aufgebracht zur Rede. Esma bricht
zusammen und konfrontiert das Mädchen schonungslos damit, dass sie bei
einer der zahlreichen Vergewaltigungen im Gefangenenlager gezeugt wurde. So
schmerzhaft diese Auseinandersetzung ist: für Esma ist es der erste
wirkliche Schritt zur Verarbeitung ihres tiefen Traumas. Und trotz Saras
Verletztheit gibt es Hoffnung auf einen Neuanfang für die Beziehung
zwischen Mutter und Tochter.
GRBAVICA ist Jasmila banićs erster Spielfilm. banić begann 1997 Filme zu
machen, als sie die Künstlergruppe und spätere Filmproduktion
"Deblokada" gründete, mit der sie eine Vielzahl von Dokumentarfilmen,
Videoarbeiten und Kurzfilmbeiträgen produzierte, entwickelte oder bei
denen sie Regie führte. Ihre Arbeiten wurden weltweit auf
internationalen Filmfestivals und Ausstellungen präsentiert. Zu den
Höhepunkten ihres künstlerischen Schaffens zählen: der
Kurzfilm BIRTHDAY (Teil des Omnibus-Films LOST & FOUND), der einen Blick
auf die unterschiedlichen Lebenswege zweier junger Mädchen wirft -
eine von ihnen ist Kroatin, die andere Bosnierin; der 2002 entstandene
Dokumentarfilm RED RUBBER BOOTS, der bosnische Mütter auf der Suche
nach ihren Kindern begleitet; der Dokumentarfilm IMAGES FROM THE CORNER,
eine bewegende persönliche Beschreibung einer jungen Frau, die
während des Krieges schwer verletzt wurde und schmerzhaft wahrnimmt,
wie ein ausländischer Fotograf Bilder von ihr macht. banić wurde 1974
in Sarajevo geboren und ist Absolventin der Academy of Dramatic Arts in
Sarajevo, Fakultät Theater und Filmregie. Vor ihrer Tätigkeit als
Drehbuchautorin und Regisseurin arbeitete sie als Puppenspielerin in dem
"Bread and Puppet" Theater in Vermont und als Clown in einem Lee De Long
Workshop.
Ich bin vom alltäglichen Leben fasziniert - aber verglichen mit dem
Krieg kann es gewöhnlich, unaufregend, fast banal wirken. Doch wenn
die Oberfläche dieses täglichen Lebens Kratzer zeigt, steigt die
ganze Kraft der menschlichen Gefühle - vergangene, gegenwärtige,
zukünftige - nach oben und bricht hervor.
GRBAVICA ist zuerst eine Geschichte über die LtEBE. über eine
Liebe, die unrein ist, weil sie mit Hass, Abscheu, Trauma und Verzweiflung
vermengt ist. Es ist auch eine Geschichte der OPFER, die - obwohl sie kein
einziges Verbrechen begangen haben - immer noch nicht vollkommen unschuldig
sind was kommende Generationen betrifft. GRBAVICA erzählt auch von der
WAHRHEIT, einer kosmischen Kraft, die notwendig für den Fortschritt
ist und die so sehr von den Menschen in Bosnien und Herzegowina gebraucht
wird, um gesellschaftliche Reife zu erlangen.
Mirjana Karanovic ist dem internationalen Publikum insbesondere aus ihren
Rollen in den Filmen von Emir Kusturica bekannt: WHEN FATHER WAS AWAY ON
BUSINESS (1985), UNDERGROUND (1995) und LIFE IS A MIRACLE von 2004. Weitere
filmische Stationen sind Ahmed tmamovics GO WEST, Goran Paskaljevics THE
POWDER KEG/CABARET BALKAN und Mirjana Vukomanovics THREE SUMMER DAYS.
Karanovic hat außerdem in einer Vielzahl von Theater- und
Fernsehproduktionen mitgewirkt, unter anderem 1988 neben Sophia Loren als
Hauptdarstellerin in der amerikanischen Mini-Serie MARIO PUZO'S THE
FORTUNATE PILGRIM. Karanovic wurde in Belgrad geboren, wo sie die Academy
of Dramatic Arts absolvierte. Ihr Filmdebüt gab sie 1980 in Srdjan
Karanovics PETRIA'S WREATH. Karanovic lebt in Belgrad und ist Professorin
an der dortigen "Braca Karic" Academy of Arts. Demnächst ist sie in
Andrea Stakas Spielfilm DAS FRäULEIN zu sehen.
GRBAVICA ist Luna Mojovics Schauspieldebüt. Luna wurde 1991 in
Sarajevo geboren. Auch in Russland und Slowenien hat die junge
Schauspielerin gelebt.
Leon Lucev ist dem internationalen Publikum insbesondere durch seine Rollen
in den Filmen Vinko Bresan 1MTNESSES (2004) und HOW THE WAR STARTED ON MY
LITTLE ISLAND (1998) bekannt. Weitere filmische Stationen sind Hrvoje
Hribars WHAT IS A MAN WITHOUT A MUSTACHE?, Krsto Papics INFECTION und Lukas
Nolas Filme CELESTIAL BODY und ALONE. Auch in vielen Theaterund
Fernsehproduktionen hat Leon Lucev mitgewirkt, während der letzten
sechs Jahren unter anderem in mehr als zehn Produktionen mit dem "it&d"
Theater.
Lucev wurde 1970 in Sibenik, Kroatien geboren. Seine frühen Arbeiten
realisierte er mit der unabhängigen Theatergruppe "Montaz Stroj" in
Zagreb, bis er 1994 die Academy of Dramatic Arts besuchte.
-
Grbavica ist ein Wort, das Ausländern vermutlich die
Zunge brechen wird. Was ist Grbavica?
Grbavica ist ein Stadtteil, nicht weit von dem
Haus, in dem ich lebe. Während des Krieges wurde dieses Gebiet von der
serbisch-montenegrischen Armee besetzt und zu einem Kriegslager
umgewandelt, in dem die Zivilbevölkerung gefoltert wurde. Wenn man
heute durch Grbavica geht, sieht man typische Bauten aus der Zeit des
sozialistischen Regimes, Einheimische, Läden, Kinder, Hunde ... und
gleichzeitig spürt man, dass etwas Unausgesprochenes,
Unaussprechliches, Unsichtbares da ist, dieses befremdliche Gefühl,
das man hat, wenn man an einem Ort ist, der von großem, menschlichem Leid
geprägt ist. Grbavica ist ein Mikrokosmos, zu dem Esma und andere
Helden gehören. Aus etymologischer Sicht bedeutet das Wort
„Grbavica”
eine Frau mit einem Buckel. Auch, wenn es ein bisschen schwer auszusprechen
ist - ich fand, dass diese unschönen Buchstaben die passende
Lautmalerei für die Welt von Esma sind.
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Wie kamen Sie auf die Geschichte?
Als der Krieg begann, habe ich mich gefreut, weil meine Mathe-Klausur
abgesagt wurde. Als Teenager war ich hauptsächlich an Sex
interessiert, oder mehr noch am Reden über Sex, am Träumen von
Sex als grösste Erfüllung der Liebe. Aber 1992 war plötzlich
alles anders und ich begriff auf einmal, dass ich mich in einem Krieg
befand, in dem Sex als Kriegsstrategie benutzt wurde, um Frauen zu
erniedrigen und damit die Vernichtung einer ethnischen Gruppe
herbeizuführen! Während des Krieges wurden in Bosnien 20 000
Frauen systematisch vergewaltigt. Ich wohnte damals 100 Meter von der Front
entfernt und hatte schreckliche Angst vor dieser Art des Kampfes. Seitdem
wurden Vergewaltigung und die Konsequenzen daraus für mich zu einer
Obsession: Ich verfolgte und las alles, was mit diesem Thema zusammenhing.
Trotzdem war mir nicht ganz klar, warum ich das tat oder was ich damit
anfangen wollte. Als ich mein Kind auf die Welt brachte, ein Kind der
Liebe, hat die Mutterschaft in mir ein Gefühlschaos verursacht, das
mich sehr schockiert hat. Ich habe mich gefragt, was für eine
emotionale Bedeutung das für eine Frau haben muss, die ihr Kind im
Hass empfangen hat. Ab dem Moment wusste ich, was ich von Grbavica wollte
und schrieb es auf -während der Stillzeit.
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Sie haben Regie geführt und das Drehbuch geschrieben.
Was war für Sie wichtig bei der Entwicklung der Charaktere?
Vor einiger Zeit starb eine Person, die mir sehr nah gewesen ist. Ich stand
morgens auf und putzte meine Zähne. Und ich fragte mich, ob diese Welt
eigentlich noch existiert, ob es möglich ist, dass ich noch existiere
und meine Zähne putze und dass alles noch am selben Platz wie gestern
ist, als wäre nichts passiert. Kein Blatt sollte mehr vom Baum fallen,
weil mein persönliches Leid so groß ist. Bei Esma habe ich genau so
gedacht. Ihre Tragödie hat die Welt nicht davon abgehalten, sich
weiter zu drehen. Ihr Leben geht weiter, sie schmiert ihrem Kind ein
Pausenbrot, sie lacht und macht Witze, bügelt, benutzt die
öffentlichen Verkehrsmittel ... Während ich das Drehbuch für
den Film geschrieben habe, und später, als ich Regie geführt
habe, habe ich die Dinge von diesem Blickwinkel aus betrachtet. Christine
Maier, die Kamerafrau, und ich wollten, dass die Kamerabewegung und die
Bildkomposition undramatisch sein sollten, um uns in diese Alltagswelt zu
führen, unter deren Oberfläche Vulkane lodern. Wir sind so nah an
Esma dran, wie sie es uns erlaubt, auf der Distanz, auf der sie uns halten
will. Außerdem war es uns wichtig, Sarajevo als einen der Charaktere zu
zeichnen.
-
Dem internationalen Publikum ist Mirjana Karanovic wahrscheinlich am
ehesten aus ihren Rollen in den Filmen von Emir Kusturica bekannt. Hatte
sie möglicherweise längere Zeit keine Rolle, in der sie ihr
volles Schauspieltalent und ihr Charisma zum Ausdruck bringen konnte?
Mirjana ist eine großartige Künstlerin. Sie ist wie ein
geheimnisvolles Instrument, das jede Regung der menschlichen Seele
wiedergibt und das durch jeden Misston, selbst den kleinsten, verletzt
wird. Sie spielt immer in mehr als nur einer Dimension. Wenn man so
möchte, ist Esma eine Frau, die ein Geheimnis in sich trägt. Ihr
Leben baut auf einer Lüge, fast alles, was sie sagt, hat eine
völlig andere Bedeutung. Mirjana hat viele verschiedene Farben. Ich
habe viel von ihr gelernt, je mehr ich mit ihr arbeite, desto mehr verehre
ich sie. Einer meiner liebsten Filme von Emir Kusturica ist "When Father
Was Away on Business", in dem Mirjana die Mutter Sena dargestellt hat. Wenn
wir diese beiden Figuren vergleichen, die Mirjana spielt, die eine aus der
Zeit des Sozialismus, die andere von heute, können wir den Wandel
erkennen, der innerhalb einer Gesellschaft und einer Frau im Land vor sich
gegangen ist.
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Allen Darstellern, auch denjenigen von kleineren Rollen, scheinen Sie
die Möglichkeit gegeben zu haben, sie zum Strahlen zu bringen.
Grbavica ist zuallererst ein Schauspielerfilm. Mir war klar, dass ich
diesen Film nur mit großartigen Schauspielern zum Leben erwecken konnte.
Das gilt ganz besonders für die Figuren der Mutter und der Tochter.
Deshalb haben wir uns sehr viel Zeit für das Casting genommen. Zum
Beispiel sind wir von Schule zu Schule gezogen und haben über 2000
Kinder interviewt. Dann haben wir eine engere Wahl aus 200 Kindern
vorgenommen, mit denen ich persönlich gesprochen habe und daraus haben
wir dann 20 Kinder ausgewählt, mit denen wir sieben Tage lang
gearbeitet haben - um heraus zu finden, weiches der Kinder Schauspieltalent
hat, aber auch die Fähigkeit zur Weiterentwicklung, zur Konzentration
und dem Aufnehmen von Hinweisen. Was die anderen Schauspieler betrifft,
haben wir nach einer langen und sorgfältigen Auswahl viele Proben
gemacht, teilweise an den Originialdrehorten, damit sich die Schauspieler
an die Welt gewöhnen konnten, die wir kreieren wollten. Was mich
glücklich gemacht hat - abgesehen davon, dass die Schauspieler
absolute Profis waren - ist, dass sie ihren Figuren, das Drehbuch und das
Team sehr gemocht haben. Jeder wollte das Beste von sich geben. Für
mich waren sie eine große Unterstützung.
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Wie ist es, mit Kindern zu drehen?
Die 13 jährige Luna Mijovic (die Sara spielt), der 14-jährige
Kenan Catic (der den Samir spielt) und die anderen jungen Schauspieler sind
nicht wie Kinder behandelt worden, sondem als gleichwertige Partner unseres
Projekts. Und genauso haben sie auch ihre Rollen verstanden: sie waren sehr
ernsthaft, verantwortungsvoll und kreativ. Und abgesehen von dieser
professionellen Seite, hat sie das ganze Team geliebt. Sie haben
gespürt, dass sie unsere volle Unterstützung haben.
-
Stimmt es, dass sich Luna während der Dreharbeiten das Bein
gebrochen hat?
Leider ja. Wir drehten gerade die Szene, in der Sara mit Samir Fussball
spielt. Wegen eines falschen Bombenalarms auf das OHR Gebäude (The
Office of High Representative) in der Nähe unseres Drehorts waren wir
mit dem Drehen spät dran. Unsere Lkws mussten durch die halbe Stadt
fahren, die Schauspieler kamen zu spät und alles fing ziemlich
chaotisch an. Wir hatten vorher einige Takes auf dem harten Schnee
abgedreht. Mittlerweile fing der Schnee an zu schmelzen und Luna rutschte
mit ihrem Bein im Schnee aus. Kenan fiel über sie drüber und ...
krach. Die Tonleute monierten, sie hätten das Geräusch von
brechenden Knochen gehört. Es war schrecklich. Lunas Bein schmerzte
sehr und ich machte mir schlimme Vorwürfe, noch dazu hatte ich schon
einen guten Take und wollte noch einen! Wir haben den Dreh abgebrochen und
zwei Monate später weitergemacht, nachdem Lunas Bein geheilt und sie
bereit war, wieder zu drehen. Der Frühling stand vor der Tür...
einige der Schauplätze mussten geändert werden, damit wir den
Film schneiden konnten. Für die Fussballszene, die wir teils im
März mit Schnee und teils im Mai gedreht haben, mussten wir beim
Abstand der Kinder zum Gebäude ein bisschen „schummeln", um die
Blüten zu verstecken.
-
Musik und Lieder spielen eine wichtige Rolle in Ihrem Film. Einige
Lieder tauchen an sehr prominenten Stellen auf: der Film beginnt mit einem
Ilahija und hört mit einem Hit aus den 70ern auf. Dazwischen sind
verschiedene Turbo Folk Hits zu hören.
Esmas Innenleben ist nonverbal und drückt sich am besten über
Musik aus, sie übernimmt eine dramatische Funktion. (lahijas, das sind
Lieder, die Gott gewidmet sind, haben ihre Gefühle ausgedrückt
und Esma dazu gebracht, zu reden. Im Gegensatz zur Sensibilität der
Ilahijas steht die aggressive und rücksichtslose Turbo Folk Music, die
heute charakteristisch für den Balkan ist. (Turbo Folk Music ist ein
Musikgenre, das ursprünglich aus Serbien kommt. Sie war der
vorherrschende Stil während der ära Milosevic und wird
häufig mit den Attributen Krieg, Mafia und Macho-Kultur assoziiert,
die diese Zeit begleitet hat. Auch heute noch ist dieser Musikstil weit
verbreitet.) In anderen Szenen wird Musik eingesetzt, um Esmas und Saras
Gefühle zu kontrastieren, oder die Musik ist Teil ihrer Umgebung. Der
Film endet mit dem bekannten Lied "Sarajevo, My Love", das häufig auf
Klassenfahrten gesungen wird. Es ist euphorisch und steht im Kontrast zu
den Gefühlen von Sara. Sobald Sara mit den anderen mitsingt,
fühlt sie sich zugehörig. Der Liedtext ist ein Hinweis auf Saras
Rückkehr, obwohl ich das Ende ambivalent halten wollte.
-
Obwohl die Geschichte von Esma und Sara im Grunde traurig ist, ist sie
gleichzeitig sehr optimistisch. Ist es möglich, dass es gegenüber
dem Vater von Sara eine versteckte Möglichkeit der Vergebung gibt?
Ich glaube, dass zuerst die Kriegsverbrecher Reue zeigen müssen, damit
die Opfer vergeben können. Eines der Probleme von Bosnien-Herzegowina
ist, dass nicht gerade viele Leute Reue für das empfinden, was
passiert ist. über 1Q(} 000 Menschen wurden getötet, eine Million
Menschen wurde vertrieben - und es gab bisher kaum Reue. Auf der anderen
Seite ist es sehr interessant, dass Rache fast gar nicht existiert, was ein
großer Verdienst dieser Gesellschaft ist. Ich glaube, dass Esma weder
über Vergebung noch über Rache nachdenkt. Sara ist ein Opfer,
aber auch eine Mahnung an das Verbrechen. Unsere Zukunft speist sich aus
der Anerkennung beider Komponenten, weil beide zu uns gehören. Sie
sind ein Teil von uns.
-
Wie sind die Arbeitsbedingungen für ein Filmprojekt in
Bosnien-Herzegowina?
Bosnien-Herzegowina ist das einzige Land in Europa,
das keine 35 mm Kamera und kein Filmlabor hat. Diese absurde Tatsache ist
symptomatisch für das Filmemachen in Bosnien. Uns fehlen eine Menge
Profis und wir versuchen, das mit Teammitgliedem aus anderen Teilen
Ex-Jugoslawiens auszugleichen oder - wie in diesem Fall - durch
Co-Produktionen mit anderen Ländern. Aber ich glaube, dass der immense
Bedarf, unsere Geschichten zu erzählen, alle Mängel
überwinden wird.
Es war eine ebenso große wie gelungene überraschung, als am Ende der
Berlinale 2006 die Jury unter dem Vorsitz der britischen Schauspielerin
Charlotte Rampling dem bosnischen Film Grbavica den Goldenen Bären
zusprach. Gründe dafür gab es genügend. «Wenn man an die
Zukunft des Kinos glauben will, muss man an Filme wie Grbavica glauben»,
hatte Andreas Kilb bereits in der FAZ geschrieben. In der Tat schafft es
die junge Bosnierin, unspektakulär, aber hochsensibel eine Geschichte
für die Kinoleinwand zu inszenieren, die mit dem Leben zu tun hat, und
eine Form zu finden, die das Lokale universell macht, die das Menschliche
in den Vordergrund stellt. Ein kleiner Film, vergleichsweise, aber eine
großartige Geschichte, die uns wieder einmal vor Augen führt, dass
die wirklich berührenden Geschichten verwurzelt sind und ihre Kraft
aus dem Humus vor Ort beziehen. Dies in einer Zeit, und darauf spielte die
Anmerkung in der FAZ natürlich auch an, in der viel Heimatloses ins
Kino gelangt - auch und gerade Heimatloses aus Süd und Ost, leer
finanziert und leer abgeschliffen aus Nord und West.
Esma lebt mit ihrer 12-jährigen Tochter Sara allein im
Nachkriegs-Sarajevo. Sara möchte auf einen Schulausflug gehen. Esma
nimmt einen Job als Kellnerin in einem Nachtclub an, um das Geld für
den Ausflug aufzubringen. Sie will, was jede Mutter möchte: Nicht nur
das Beste für ihre Tochter, sie will
auch, dass ihre Tochter all das haben kann, was andere haben können.
Die quirlige Sara freundet sich mit Samir an, der wie sie selber keinen
Vater hat. Beide Väter sollen als Kriegshelden gestorben sein, heisst
es. Aber Samir ist verwundert, dass Sara nicht weiss, wie genau ihr Vater
starb. Wenn Mutter und Tochter das heikle Thema ansprechen, gibt Esma
ausweichende Antworten.
Die Situation verkompliziert sich, als von der Schule aus angeboten wird,
die Kinder von Kriegshelden könnten am Ausflug kostenlos teilnehmen.
Nun erklärt Esma ihrer Tochter, dass der Leichnam ihres Vaters nie
gefunden wurde und sie daher die Bescheinigung nicht habe. Sie versucht
nun, das nötige Geld von ihrer Freundin Sabine, ihrer Tante und ihrem
Chef im Nachtclub zu leihen. Sara wird das Gefühl nicht los, dass
etwas nicht stimmt an dieser Geschichte. Und sie stellt, wie Kinder das an
sich haben, weiter Fragen. Grbavica lässt uns einfach zuschauen und
über die ausgesprochen exakte und lebensnahe Beschreibung langsam
erkennen. Die Geschichte ist zunächst eine ganz alltägliche, wie
wir sie rund um die Welt antreffen können: Eine Mutter lebt mit ihrer
Tochter allein erziehend in einer Stadt. Die beiden verstehen sich gut,
machen manchmal freundschaftlich gemeinsame Sache, aber immer wieder
scheinen auch die Konflikte auf, die zwischen einer Mutter und einer
Tochter so entstehen können. Bei ihnen kommt dazu: Ein verspielter
Moment kann bei den beiden ohne Vorwarnung in einen Schmerz kippen, der
ahnen lässt, dass es da Wunden gibt, die höchstens an der
Oberfläche verheilt sind. Mirjana Karanovic, die großartige
Kusturica-Schauspielerin, und Luna Mijovic, die junge Entdeckung dieses
Films, verkörpern die beiden Figuren still und großartig. Ihre
Präsenz ist eines der kleinen Ereignisse, die Grbavica so groß
machen. Ein anderes: Jasmila banić führt uns an einen Punkt des
Begreifens dessen, was Kriege hinterlassen, warum sie nie eine Lösung
sind.
Walter Ruggle
Der Staat Bosnien-Herzegowina besteht seit dem Friedensabkommen von Dayton
1995 aus zwei Teilen, so genannten „Entitäten", der Föderation
Bosnien und Herzegowina und der Serbischen Republik. Hauptstadt ist
Sarajevo mit rund 350'000 Einwohnern. In Bosnien-Herzegowina leben rund 3,7
Millionen Menschen, wovon ca. 44% Bosniaken, 32% Serben und 17% Kroaten
sind. Die restlichen 7% gehören zu anderen ethnischen Gruppen wie
z.Bsp. zu Montenegrinern, Albanern, Slowenen, Makedonen, Türken oder
zu den Roma. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurden die verschiedenen
Dialekte als eigene Sprachen anerkannt. Landessprachen BosnienHerzegowinas
sind Bosnisch, Serbisch und Kroatisch. Bosnisch ist linguistisch gesehen
weitgehend identisch mit dem Serbischen und Kroatischen (früher
zusammengefasst als "Serbokroatisch") und weist im Gegensatz zu den
letzteren eine hohe Anzahl von Lehnwörtem aus dem Türkischen auf.
Bosnisch und Kroatisch werden mit lateinischem Alphabet geschrieben,
während fürs geschriebene Serbisch das kyrillische Alphabet
verwendet wird.
Chronoloqischer Abriss
6./. Jhd. | Slawische Einwanderung in das Gebiet Bosnien und Herzegowinas |
1180 | Bosnisches Fürstentum unter Ban Kulin. Er duldet
religiöse Bewegung der Bogomilen, die in anderen Gebieten des
westlichen Balkans als Ketzerbewegung verfolgt wird. |
1353-1391 | Blüte des bosnischen Fürstentums unter
König Tvrtko 1. |
1463 | Großteil Bosniens unter türkischer Herrschaft; Konversion
bogomilischer Bevölkerungsgruppen zum Islam. |
1481 | Herzegowina unter türkischer Herrschaft |
1580 | Vereinigung Bosniens und Herzegowinas zu einem "Paschaluk" |
um 1700 | Stabilisierung der Grenzen zwischen dem Osmanischen Reich
("bosnischer Paschaluk") und der Habsburger Monarchie |
1839 | Auflösung der Selbstverwaltung Bosniens nach
anti-türkischen Aufständen der feudalen islamischen Oberschicht. |
1878 | Besetzung Bosniens durch österreich-Ungarn infolge
des BerlinerKongresses |
1908 | Annexion Bosnien-Herzegowinas durch österreich-Ungarn |
1912/13 | Balkankriege: Serbien versucht vergeblich, sich stärker in
Bosnien und Herzegowina zu etablieren |
28.06.1914 | Ermordung des österr.-ungar. Thronfolgerpaares durch den
serbischen Nationalisten Gavrilo Princip in Sarajevo |
1918 | Bosnien-Herzegowina wird Teil des neuen Königreichs der
Serben, Kroaten und Slowenen |
1929 | Proklamation des "Königreichs Jugoslawien"; Diktatur König
Alexanders |
1939 | "Sporazum": Serben und Kroaten vereinbaren die Teilung Bosnien und
Herzegowinas in serbisch und kroatisch dominierte Banovinas (Cvetkovic-Macek) |
1941 | Deutsche und italienische Truppen besetzen Jugoslawien;
Bosnien und Herzegowina wird in den faschistischen
"Unabhängigen Staat Kroatien" eingegliedert. |
25.11.1943 | Konstituierung der "Volksrepublik Bosnien-Herzegowina" (NRBiH) |
29.11.1943 | Proklamierung der „Föderativen Volksrepublik
Jugoslawien” (FNRJ) |
1963 | Neue bosnische Verfassung: Muslime werden erstmals als
eigenes „Volk” aufgeführt |
1971 | Volkszählung: Muslime können sich erstmals
offiziell als „Muslime im Sinne einer Nation” registrieren
(ca. 800.000 tun dies) |
1974 | Neue Bundes(SFRJ)- und Republikverfassungen: starke Tendenz
zur Dezentralisierung |
1980 | Tod Titos |
Sommer 1991 | Zerfall Jugoslawiens |
1.3.1992 | Referendum: bosnische Muslime und Kroaten stimmen
mehrheitlich für Unabhängigkeit, die meisten Serben boykottieren
die Abstimmung; In der Folge suchten zunächst die bosnischen Serben,
ein Jahr später auch die bosnischen Kroaten (in der Herzegowina)
möglichst große Landesteile unter ihre Gewalt zu bringen, um
sie letztlich dem jeweiligen „Mutterland” einzuverleiben
(ca. 278.000 Tote und Vermisste, 1,325 Mio. Flüchtlinge und
Vertriebene) |
6.4.1992 | Anerkennung der Republik Bosnien und Herzegowina
durch die USA und EU-Mitgliedstaaten |
18.03.1994 | Bosnier und Kroaten unterzeichnen in Washington
den Vertrag zur Bildung einer „Föderation von
Bosnien-Herzegowina” |
14.12.1995 | Unterzeichnung des Daytoner Friedensvertrags in Paris:
einheitlicher und politisch unabhängiger Gesamtstaat
BosnienHerzegowina (BiH), bestehend aus Föderation von BiH (FBiH) und
Republika Srpska (RS).
|
.....
DAS UNSICHTBARE WAHRNEHMBAR MACHEN
Die Bilder, die die Bosnierin Jasmila banić und ihre
östereichische Kamerafrau Christine Maier aufgenommen haben,
erzählen unaufdringlich von einem Alltag, in dem vieles innen
bleibt, was außen geschah. Und es ist irgendwie bezeichnend,
dass die Politik
in Bosnien tat, was die Politik auch anderswo getan hätte: Sie
akzeptierte nach dem Krieg Opfer mit äußeren Wunden als Kriegsopfer,
nicht aber Opfer, deren Wunden nicht sichtbar waren. Man spricht von bis zu
20000 vergewaltigten Frauen im Bosnienkrieg, systematisch und mit mitunter
unbeschreiblicher Brutalität vergewaltigten Frauen. Kann man
darüber einen Film drehen? Kann man darüber reden?
Die junge Bosnierin Jasmila banić hat es gewagt, und sie hat etwas ganz
Entscheidendes gemacht: Sie lässt das, was innen ist, innen ruhen. Wir
können es sehen, wahrnehmen, aber es bleibt nicht auf eine falsche Art
gestört. Und sie verzichtet darauf, das, was außen war, zu zeigen. Um
so stärker öffnet sie uns die Sinne für die verborgenen
Wunden, die ein jeder Krieg hinterlässt und die noch lange nicht
verheilt sind, wenn die Waffen wieder schweigen.
.....
DIE KAMERA ÖFFNET INNENSPHÄREN
Die Einstiegseinstellung in den Film ist eine sanft schwebende Kamerafahrt
mit Schwenk nach rechts über einen Teppich zunächst, dann
über Frauenhände, Gesichter, schlafende, in sich versunkene
Frauen. Eine in Grau öffnet die Augen zur Kamera. Es folgt in der
nächsten Szene harte Turbofolkmusik aus dem Balkan, und wir erkennen
die Frau von davor wieder, die nun in einem Nachtclub jemanden sucht. Das
erste Wort, das in Grbavica gesprochen wird, ist «Fuck». Ein
alltäglicher männlicher Fluch. Der Chef des Etablissements lebt
in einer anderen Welt als die Frau, die da bei ihm eine Arbeit sucht. Wenn
er sie fragt, ob sie Kinder habe, dann müsste er die Antwort schon gar
nicht abwarten, sie interessiert ihn nicht wirklich, er selber weiss:
«nur Verrückte haben Kinder heute.»
.....
Du hast die Rolle der Männer in politischen Belangen
erwähnt mir scheint, so sehr das ein Film über Frauen ist,
so sehr ist es auch ein Film über Männer...
(schmunzelt)
...oder über eine gewisse Art von männlichem
Gehabe. Du hast eine klare Vorstellung, zeichnest sie sehr präzis,
zeigst dabei aber auch, wie verletzlich sie auch sind. Pelda zum
Beispiel - was ist er für dich?
Mir war es wichtig zu zeigen, was mit Esma geschah, wenn sie ihre intime
Welt innerhalb ihrer vier Wände hat. Für sie war alles, was sich
außerhalb der vier Wände befand, immer beängstigend: Die
Straßen, die Bars, sogar die Therapie. Sie bemühte sich darum, ihr
Geheimnis für sich zu behalten, ja sie war bereit, alles dafür zu
tun, es nicht preisgeben zu müssen. Sie würde sogar an den
übelsten Platz gehen, um die Tochter zu schützen. Für sie
war diese America Bar so ein Ort, und ich wollte diesen Typus Bar im Film
haben. Ich muss gestehen, die ist sehr realistisch. Ich habe da
recherchiert und war erstaunt darüber zu entdecken, wie aggressiv die
Leute sich an solchen Orten aufführen.
Diese Aggression, dieses nicht unter Kontrolle haben von Emotionen und das
Rauslassen der primitivsten Dinge: Das ist nicht nicht in Verbindung mit
dem Krieg, aber das dauert an und das ist klar
männlich dominiert. Die America Bar zeigt auch diese neue Art von
reichen Leuten, die die neue Art von Kapitalismus repräsentieren. Das
ist Kapitalismus in seiner ersten Form, seiner wildesten, seiner
primitivsten Form, verbunden mit dem speziellen «Balcan Flavour». Auch
einen deutschen Soldaten in der Bar zu zeigen mit der ganzen
Aggressivität war für mich wichtig, um klar zu machen, dass
dieses männliche Verhalten nicht nur eine bosnische Angelegenheit ist:
Das ist universell.
Auf der anderen Seite haben wir Pelda, der sehr gefühlsbetont ist in
bezug auf seine Mutter und zu Frauen, aber er versucht nach dem Krieg eine
Art von Komfort zu finden. Er hat seinen inneren Kompass während dem
Krieg verloren und ist richtungslos. Er würde einen Job annehmen in
einem solchen Club, weil er Geld braucht für was auch immer. Er
würde das auf dem bequemsten und dem einfachsten Weg machen. Sein sich
Absetzen nach österreich ist ja auch eine Flucht, der einfachste Weg.
Das zeigt auch, wie kindisch er ist in gewisser Hinsicht.
.....
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